Kuchen backen nach dem Meltdown?
Ein Gespräch mit der Autorin Motoya Yukiko über trügerische Normalität nach Fukushima
Lisa Mundt, M.A. (Japanologie Frankfurt) (10. Oktober 2014)
Anlässlich der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, die vom 8. bis 12. Oktober stattfand, veranstalteten die Japan Foundation und das Generalkonsulat von Japan in Frankfurt am Main unter Mitwirkung der Japanologie der Goethe-Universität eine Lesung mit anschließendem Autorengespräch mit der Schriftstellerin Motoya Yukiko[1]. Da Motoya auch als Theaterautorin tätig ist, übernahm ich als kultur- und theaterwissenschaftlich arbeitende Japanologin die Moderation der Veranstaltung. Dabei sorgte die Ankündigung des Generalkonsulats, die Autorin habe für die Veranstaltung eine aktuelle Erzählung mit dem Titel Tomoko no baumukûhen (Tomokos Baumkuchen)[2] ausgewählt, für Verwunderung: Ist es nach „Fukushima“ und unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Umständen in Japan nicht geradezu abwegig, über die Zubereitung eines Baumkuchens zu schreiben?
Im Vorgespräch mit der Autorin wurde rasch klar, warum sie sich gerade für diese Erzählung entschieden hatte. Motoya berichtete, ihre Erzählung habe viel mit der japanischen Gesellschaft nach „Fukushima“ zu tun, was zu betonen ihr auch in den Gesprächen vor Publikum wichtig sei. Hierfür fand sie den Vergleich mit dem eigenen Spiegelbild, das mit andauernder Betrachtung immer fremder erscheint. Diese Ahnung, dass unter der sichtbaren Oberfläche noch andere, bedrohliche Dinge verborgen seien, sei ein Gefühl, das sie nach „Fukushima“ auch in Bezug auf die japanische Gesellschaft befallen habe: In Japan, zumindest aber in Tôkyô, scheine der Alltag inzwischen wieder völlig normal zu verlaufen. Aber das sei für sie ganz und gar nicht der Fall. Aus diesem irritierenden Gefühl heraus, so berichtete Motoya weiter, sei die Erzählung Tomoko no baumukûhen entstanden.
Motoya sieht die Aufgabe der Literatur darin, Fragen aufzuwerfen. Deshalb habe sie bewusst auf eine eindeutige Auflösung am Ende der Erzählung verzichtet und eine erste Fassung verworfen, die die Interpretation nahegelegt hätte, dass Tomoko den Verstand verloren habe. Vielmehr wolle sie die Leser mit ihrem Text verunsichern. So sollen die Leser aufgefordert werden, ihre eigene Alltagsrealität und damit auch die in Japan scheinbar herrschende Normalität zu hinterfragen.
Der Text Tomoko no baumukûhen ist zunächst schwer zu fassen. Der Versuch, ihn der japanischen shinsai bungaku (Erdbeben-Literatur) zuzuordnen – nach Motoyas Äußerungen der erste naheliegende Ansatz – stellt nicht zufrieden. Denn anders als in den bibliotherapeutisch anmutenden Texten beispielsweise der iyashi-Autorin Yoshimoto Banana, wird die Begegnung mit einer anderen Welt hier nicht als möglicher Weg zur Heilung und zur Aussöhnung mit dem eigenen Schicksal geschildert. Auch ein Vergleich mit Texten der atomkritischen Richtung führt nicht viel weiter, da er jede Bezugnahme auf „Fukushima“ oder Atomenergie vermeidet. Am ehesten lässt sich Motoyas Erzählung der japanischen Phantastik (gensô bungaku) zuordnen. Ähnlich wie Texte von beispielsweise Ogawa Yôko oder Kawakami Hiromi operiert sie mit dem Element des Unheimlichen, das in den Alltag einbricht, Brüchen in der Realität und rätselhaften Parallelwelten.
Die Erzählweise dieses subtilen Textes mag dabei verschiedenen Verdeckungs- und Einschüchterungsversuchen der japanischen Regierung geschuldet sein. Stichworte sind in diesem Zusammenhang beispielsweise die unkritische Berichterstattung durch etablierte Medien wie den staatliche Sender NHK, die mit großem Aufwand betriebene Bewerbung um die Olympischen Spiele 2020, der Wahlsieg der konservativen LDP im Dezember 2012, die ein Jahr später das sogenannte „Geheimnisgesetz“[3] verabschiedete, sowie Verbote und Repressionen, denen sich atomkritisch agierende Künstler (Takayama Akira, Chim↑Pom, Oshidori Mako) immer wieder ausgesetzt sehen.
Der Baumkuchen lässt schließlich zweierlei Deutungen zu. Zum Einen kann er als Sinnbild für die von Motoya beobachtete gesellschaftliche Tendenz zur Verdrängung der Katastrophe verstanden werden: Indem die Protagonistin die unheimlichen Geschehnisse in ihrem Lebensumfeld ignoriert und sich auf das Banale – nämlich die Zubereitung ihres Baumkuchens – konzentriert, versucht sie, ihr Leben fortzusetzen, als sei nichts geschehen. Dass dies nicht gelingen kann, zeigt sich am Ende der Erzählung: Die Verdrängungsstrategie entpuppt sich als Sackgasse, die Realitätsflucht der Protagonistin misslingt. Somit ist auch eine Intention als ein Seitenhieb auf das machtpolitische Gebahren der Liberaldemokraten denkbar, die Motoyas Erzählung zufolge ebenfalls an ihrer Verkennung der Realität scheitern muss.
Literatur
- Motoya Yukiko (2014): Tomoko no baumukûhen. In: Shinchô Nr. 1/2014. Tôkyô: Shinchôsha.
- Ichikawa Makoto, David Karashima (Hrsg.) (2014): Granta. The Magazine of New Writing. Issue 127/Spring 2014. London: Granta Publications.
- Gebhardt, Lisette (2012): "'Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass dieser Tag kommen möge': Positionen japanischer Autoren nach 'Fukushima'". In: Richter, Steffi und Lisette Gebhardt (Hrsg.): Japan nach 'Fukushima'. Ein System in der Krise. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 171-205.
- Lisa Mundt (Japanologie Frankfurt), 6. November 2011
[1] Motoya Yukiko (geb. 1979 in der Präfektur Ishikawa) verfasst Prosa- und Theatertexte, die sie mit ihrer in Tôkyô ansässigen Gruppe Gekidan, Motoya Yukiko inszeniert. Zuletzt wurden Ihre Kurzegschichtensammlung Arashi no pikunikku („Picknick im Sturm“) mit dem Ôe-Kenzaburô-Preis (2013) und der Erzählband Jibun wo suki ni naru hôhô („Wie man sich selbst lieb gewinnt“) mit dem Mishima Yukio-Preis (2014) ausgezeichnet. Das englischsprachige Literaturmagazin Granta stellte die Autorin im Frühjahr 2014 in seinem Themenheft „Japan“ vor. In deutscher Übersetzung liegen Motoyas Texte bislang nicht vor. Die Autorengespräche im Rahmen ihres Aufenthaltes in Frankfurt fanden am 11. Oktober im Museum Angewandte Kunst (MAK) und am 12. Oktober im Paschen Literatursalon auf der Frankfurter Buchmesse statt. Zudem konnte ich mit Motoya Yukiko ein ausführliches Vorgespräch führen.
[2] Die Erzählung wurde für die Veranstaltung von Ursula Gräfe ins Deutsche übersetzt, aber bislang nicht veröffentlicht.
[3] Tokutei Himitsu Hogo-hō (etwa „Gesetz zum Schutz besonderer Geheimnisse“). Das umstrittene Gesetz sieht unter Anderem langjährige Haftstrafen für die Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen vor. Kritik richtet sich vor allem gegen die vage Definition als „bestimmte“ (tokutei) Geheimnisse, die eine beliebige Auslegung zulasse. Unter den Kritikern des Gesetzes ist auch Literaturnobelpreisträger Ôe Kenzaburô, der das Gesetz öffentlich als unmoralisch und die Ignoranz der japanischen Regierung als Beleidigung für die Bürger in Fukushima bezeichnete (http://www.asahi.com/articles/OSK201312100177.html, abgerufen am 13.03.2014).