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Verrückt in einer verrückten Welt?

Kurosawa Akiras  “Bilanz eines Lebens/Ein Leben in Furcht” 
(
生きものの記    Ikimono no kiroku)

Ein Kommentar von Jan-Christoph Müller (Juli 2011)


Neben Kurosawas Projekt Yume steht ein weiterer Beitrag im Gesamtwerk des Regisseurs stellvertretend für seine mahnende Haltung gegenüber der Atomkraft - sei es die zivil genutzte oder die militärische Anwendung – nämlich der relativ zeitnah nach den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki entstandene Film „Bilanz eines Lebens“ (生きものの記録Ikimono no kiroku) aus dem Jahre 1955.


(Ausschnitt aus dem Film von Kurosawa Akiras: “Bilanz eines Lebens/Ein Leben in Furcht” )

Erzählt wird im Stile der in der Nachkriegszeit überaus beliebten Familiendramen (庶民劇Shomin geki) ein Interessenskonflikt innerhalb der Familie des Fabrikbesitzers Nakajima Kiichi (dargestellt von Kurosawas Stammschauspieler Mifune Toshirō). Die Gründe für die Streitigkeit werden bereits in den ersten Filmminuten dargelegt: Das Familienoberhaupt der Nakajimas beabsichtigt aufgrund einer nicht zu überwindenden Furcht vor der atomaren Vernichtung seine Fabrik (welche die Lebensgrundlage für den Großteil seiner Söhne und Töchter bildet) zu verkaufen und mitsamt seinen Angehörigen ins ferne Brasilien zu flüchten. Alles andere als erfreut über diesen vermeintlich irrationalen Entschluss, sieht die Familie ihre Existenz bedroht und versucht daher vor einer Schlichtungskommission die Entmündigung des alten Nakajima durchzusetzen. Die Einführung der Figuren findet somit auch in den Räumlichkeiten der Schlichtungsstelle statt.

Augenmerk sollte auf die Wahl des Rückzugsortes gelegt werden. Brasilien erscheint dem alten Nakajima als verheißungsvoller Ort, reich an schönen Landschaften und möglichst weit weg von jeglichen Atomwaffentests der Großmächte - geradezu ironisch mutet es da an, dass auch dieses Land in naher Zukunft (1978 bis 1985) an einem Kernwaffenprojekt festhalten sollte. Brasilien mag auch wegen seiner aktiven Bestrebungen, ausländische Arbeiter für seine Agrarindustrie anzuwerben, attraktiv erschienen sein, nicht zuletzt lebt dort auch heute noch der größte Teil der japanischen Diaspora (日系 Nikkei).

Der Zahnarzt Harada, ein Mitglied der Schlichtungskommission, wird im Laufe des Films als ein ambivalenter Charakter aufgebaut, ist er doch der einzige, der sich zu einem gewissen Teil in die Gedankengänge Nakajimas einfühlen kann. So etwa, wenn er abends mit seinem Sohn am Tisch zusammensitzt:

- „Sag mal, hast du Angst vor Atom- und Wasserstoffbomben?"

- „Natürlich, alle haben Angst davor!“

- „Wie kannst du dann so ruhig dasitzen und deine Zeitung lesen?“

- „Nun ja, man hat vor manchem Angst, wogegen man machtlos ist…“

Machtlos mag der einzelne Mensch sein, doch nicht das Kollektiv, das sich gemeinsam sozialen und politischen Problemen annimmt, um diese ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. Dass er mit seinem Film diesen Effekt erzeugen könne, erkannte Kurosawa und hielt es für eine Notwendigkeit, die japanische Bevölkerung erneut auf die Gefahren der Atomkraft hinzuweisen. Die Erinnerungen an die Atombombenabwürfe waren zwar noch vorhanden, aber im zunehmenden wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit wurden diese immer mehr von zukunftsgewandten Gedanken an die Zeit nach der Not abgelöst und möglicherweise auch verdrängt. Besitzt der Film heute wieder eine zeitpolitische Aktualität, entwickelte sich „Bilanz eines Lebens“ bei seiner Premiere zum ersten größeren kommerziellen Flop Kurosawas. Er selbst äußerte sich dazu später in einem Gespräch mit Donald Richie dahingehend, dass der Film möglicherweise einfach zu früh entstanden sei. Damals habe sich noch niemand ernsthaft Gedanken über eine mögliche atomare Auslöschung gemacht (Richie 1998: 114).

Vor dem Hintergrund des damals brandaktuellen Zwischenfalls der Verstrahlung eines japanischen Fischerbootes durch Nuklearexperimente im Bikini-Atoll (1954) sowie der Gründung des „Japan Council Against Atomic And Hydrogen Bombs“ (原水協 Gensuikyō) (ebenfalls 1954) wird jedoch auch eine weitere Lesart deutlich, wie Richie konstatiert:

“Another way of thinking about it would have been that the timing had been too good, and that the Japanese people were so actively concerned that their main interest was to escape from having to think.” (Richie 1998: 114).

Die Atmosphäre, die im Film hintergründig erzeugt wird, ist eine der ständigen Bedrohung. Dies zeigt sich in der verwendeten Musik - das Eingangsthema ist bspw. mit Thereminklängen unterlegt, nicht unüblich in vielen Science-Fiction Filmen der Zeit, um sphärische und somit außerweltlich anmutende Klänge zu erzeugen. Aber auch die Wahl der Kameralinsen trägt zu diesem Effekt bei. In eingen Schlüsselszenen bewirkt die Verwendung von langen Teleskoplinsen, dass die aufgenommenen Objekte weitaus näher und somit bedrohlicher erscheinen, als sie es wirklich sind. Bezeichnend hierfür ist die letzte Szene des alten Nakajima, in der er in die per Teleskoplinse fotografierte Sonne am Horizont blickt und schlagartig vom Ausbruch des atomaren Weltenbrands überzeugt zu sein scheint. Die drückende und schwüle Hitze des Tōkyōer Spätsommers kommt erschwerend hinzu.

Die atomare Furcht Nakajimas findet ihren Höhepunkt schließlich darin, dass dieser die Fabrik niederbrennt, um seiner Familie die letzte rationale Grundlage zu entziehen, welche seiner Meinung nach der Flucht nach Südamerika noch entgegensteht. Doch der ultimative Akt, seine Familie auf die eigene Seite zu ziehen, bewirkt nur weitere Isolation und letztendlich sogar die Einlieferung in ein Sanatorium, wo er dazu verdammt ist, sein restliches Leben zu verbringen. Im Gespräch mit Harada macht der Sanatoriumsleiter dennoch einige Zugeständnisse an seinen Gesundheitszustand und beschließt den Film mit den Worten:

„Wenn ich ihn ansehe, fange ich an, an mir selbst zu zweifeln. Ich frage mich dann oft, ob der Verrückte dann wirklich verrückt ist. Oder ob wir es nicht sind, die glauben, in einer verrückten Welt uns unseren Verstand bewahrt zu haben.“


Literaturverzeichnis:

  • Kurosawa, Akira; Bock, Audie E. (1983): Something like an autobiography. 1. Vintage Books. New York: Random House.
  • Nogami, Teruyo; Carpenter, Juliet Winters; Richie, Donald (2006): Waiting on the weather. Making movies with Akira Kurosawa. Berkeley, Calif: Stone Bridge Press.
  • Prince, Stephen (1999): The warrior's camera. The cinema of Akira Kurosawa., NJ: Princeton Univ. Press.
  • Richie, Donald; Mellen, Joan (1998): The films of Akira Kurosawa. expanded and updated, new epilogue. Berkeley, Calif: University of California Press.

 

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