Sakate Yôji
Ein zweiter Geburtstag
Können wir noch einmal neu anfangen?
Übersetzung von Lisa Mundt (Universität Frankfurt)
(Theaterregisseur Sakate Yôji) |
Am 11. März habe ich Geburtstag.
Unser Proberaum im Keller schwankte heftig. Wir waren mitten in den letzten Proben für das Stück „Urayaneura“, das am 20. März Premiere haben sollte. Von meinem Regiestuhl aus ordnete ich eine Unterbrechung an und ging nach oben. Die Stromleitungen schaukelten immer noch hin und her. Etwas mehr als zehn Minuten vergingen, das Beben schien sich wieder zu beruhigen, dann erneut ein heftiger Stoß, eine Pause. Dann wieder Ruhe. Die Schauspieler überraschten mich mit einem Geburtstagskuchen. Von einem baldigen Stromausfall war zwar noch nicht die Rede, aber ich dachte trotzdem schon daran, im Notfall die Kerzen auf meinem Kuchen zu nutzen.
Der öffentliche Nahverkehr im gesamten Stadtgebiet von Tōkyō kam zum Erliegen, so dass einige aus der Gruppe mit unserem Van nach Hause fuhren. Da sie aber immer wieder aufgehalten wurden, waren sie bis spät in die Nacht unterwegs. Andere kamen gar nicht zu Hause an. Das Schwanken setzte sich permanent fort und wollte einfach nicht nachlassen. Ich erfuhr zumindest, dass meine Nichte, die ich zunächst nicht hatte erreichen können, sich mit einigen anderen Gestrandeten im Opernhaus des New National Theatre aufhielt. Ihr Schulweg von Ibaraki nach Ueno dauert zwei Stunden, es war aussichtslos, noch einen Zug zurück nach Ibaraki zu bekommen. Also blieb sie dann bis zum nächsten Morgen bei uns zu Hause.
Aus Japan und aus dem Ausland kamen viele Anfragen nach meinem Wohlergehen, auch teilnahmsvolle Briefe trafen ein. Dafür bin ich sehr dankbar, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt glaubte, dass Tōkyō nicht unmittelbar betroffen sei und die Situation daher als etwas seltsam empfand. Gleichzeitig wurde ich den Gedanken nicht los, dass alles noch nicht vorbei war. Dann schickte ein befreundeter Theatermacher aus Sendai eine Mail, die wie ein Hilferuf klang: „Von der Versorgung abgeschnitten, keine Lebensmittel“. Anrufe auf Handys waren nicht möglich, aber Textnachrichten kamen an. Irgendetwas mit der Post schicken? Aber auch der Expresspaket-Service hatte den Lieferbetrieb eingestellt. Was unmittelbar nach dem Beben verschickt worden war kam zwar gerade noch an, aber schon bald gab es nichts mehr, was man tun konnte.
Ich bekam eine Mail von einem älteren Bekannten, der lange Zeit im Ausland verbracht hatte und vor zwei Jahren wieder nach Japan zurückgekehrt ist. Er schrieb über das Erdbeben: „Mir ist klar geworden, dass nicht die Götter, sondern nur eine Naturkatastrophe die Menschen auf den richtigen Weg bringen kann“.
Das war Sarkasmus, um die Last der Verluste zu ertragen, ein Ausdruck des Schmerzes. Die „Strafe des Himmels“, wie es Tōkyōs Gouverneur Ishihara Shintarō formuliert hatte, war etwas völlig anderes.
Dann hieß es, dass es planmäßige Unterbrechungen der Stromversorgung geben würde. Musashino lag mitten im betroffenen Gebiet. Die Fragilität des Alltags in Tōkyō immer im Hinterkopf, passten wir unseren Probenplan an die Stromunterbrechungen an. Da für den letzten Tag der Proben ab zwanzig nach zwölf abends eine Stromunterbrechung angekündigt war, begannen wir schon morgens um neun Uhr und probten im Schnelldurchlauf.
In sieben Präfekturen wurde radioaktive Strahlung in der Luft gemessen, benachbarte Länder setzten ihre Atomtests aus, der höchste Wert seit Beginn der Messungen wurde aufgezeichnet. Es wurde von Messwerten in Shinjuku berichtet, die den zulässigen Grenzwert um das 21-fache überschritten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Situation unter Kontrolle gebracht werden würde. Waren überhaupt die Experten vor Ort? „Schlimmer als Tschernobyl“, hieß es. Die Krisenbewältigungsstrategie hatte offenbar bisher nicht berücksichtigt, dass es nicht damit getan sein würde, genau wie in Tschernobyl alles schnell mit einem „Steinsarg“ zu versiegeln. Ich war jedes Mal fassungslos, wenn aus Regierungskreisen zu hören war, dass „keine unmittelbare Gefahr für die Gesundheit bestehe“. Irgendwann sterben wir eben alle.
Ein Bekannter fragte sich, ob man nicht eine Verlegung der Hauptstadt in Betracht ziehen sollte, wenn Tōkyō zwar nicht direkt durch ein Beben verwüstet werden würde, die Verstrahlung aber anhielte. Er persönlich wollte nicht weg, sondern hatte sich entschieden, in Tōkyō zu bleiben. „Wir sind vom Schlimmsten verschont geblieben“, hatte er zuvor gesagt, „da ist es doch nur recht und billig, wenn wir jetzt hier bloß mit der Strahlung leben müssen“.
Ich spreche mit Politikern, die ich kenne, und einigen Regierungsbeamten. Man tut, was man kann. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, nicht in Panik zu geraten. Was Takashi Hirose im Fernsehen sagte, klingt realistisch: „Jetzt wäre es an der Zeit für die Japaner, in eine wirkliche Panik zu verfallen“. Wenn man die Muße hat, sich das Maul über Menschen zu zerreißen, die Vorräte einkaufen oder sich in Sicherheit bringen, sollte man sich wohl eher vor seinen eigenen Problemen fürchten.
*
Der Tag, an dem wir uns im Theater einrichten. Bei normalen Aufführungen wird vermehrt auf Sicherheit geachtet und alles sorgfältig überdacht. Wieder und wieder gibt es Diskussionen mit den Beteiligten, bis schließlich entschieden wird, die Aufführung wie geplant durchzuführen. Wenn aber auch nur einer der Schauspieler oder der Crew der Aufführung nicht zustimmen kann, ist die Entscheidung hinfällig. Auch wenn es während der Aufführung zu einer Ausnahmesituation kommen sollte, liegt es in der Verantwortung des Veranstalters, unverzüglich zu entscheiden, ob die Aufführung unterbrochen oder ganz abgesagt wird. Die Lähmungen des Verkehrsnetzes und kurzfristig angesetzte „planmäßige Stromunterbrechungen“ müssen ebenfalls bedacht werden. Auch falls nach dem nächsten Beben oder wegen einer Veränderung der Situation am Atomkraftwerk zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens und des Alltags der Notstand ausgerufen werden sollte, sollte man darauf achten, für wann man Aufführungen ansetzt und dass man seine Vorstellungen auf eventuelle Stromunterbrechungen hin abstimmt.
Rege Geschäftigkeit auf der Bühne. Der durchdringende Geruch der Currygerichte, die der Lieferservice bringt. Ich ertappe mich dabei, dass ich mittlerweile bei jeder Gelegenheit zur Selbstbeherrschung anhalte.
Als ich endlich mit einer Bekannten in Sendai telefonieren kann, erfahre ich von ihr vom Ausmaß der Verwüstung. Sie war mit dem Auto unterwegs, wurde von dem Tsunami erfasst, konnte sich aber retten. „Wie im Film“, sagte sie. Sie selbst bestärkt mich darin, die Aufführung in Tōkyō zu zeigen.
Es war sicher schlimm für all diejenigen, die an entlegenen Orten Zuflucht suchen mussten. Fischerdörfer wie die Halbinsel Oshika und Ayakawa, die ich, seit ich vor etwa 20 Jahren Kujira no bohyō geschrieben habe, hin und wieder besucht habe, sollen bis auf die Gebäude aus Beton fast vollständig weggespült worden sein. Viele der Dorfbewohner konnten sich wohl auf Anhöhen retten, aber es gab offenbar auch viele Tote. Ein Schauspieler, der damals einen Gastauftritt hatte, sagt mir, dass eine Szene aus dem Stück Sensō to shimin, das ich vor knapp zwei Jahren geschrieben habe und das die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg behandelt, der Atmosphäre gleiche, die derzeit die Presseberichte vermitteln: eine Szene, in der viele Menschen auf der Flucht vor einem Luftangriff orientierungslos umherirren. Einer der Schauplätze in diesem Stück war Ayakawa. Auch die New York Times hat über diese Fischerdörfer berichtet, die hauptsächlich vom Walfang leben: „Das große Erdbeben von Ostjapan[1] stoppt den Walfang“, „Der Tsunami fällt die Pfeiler des Walfangs in Japan und erreicht das, was die erfolglosen Proteste und Interventionen von Umweltschutzorganisationen aus Europa und Amerika nicht vermochten“. Wenn man die Lebensbedingungen in diesen Fischerdörfern kennt, dürften einem solche Worte nicht über die Lippen kommen.
Die Vereinigung von Theaterleuten für den Frieden, Hisen wo Erabu Engekinin no Kai, hat unter dem Motto „Spenden für die Opfer des Erdbebens in Tōhoku und Kantō“ Geld gesammelt. Im Foyer des Theaters standen drei Spendenboxen bereit. Für manche Tage wurden großflächige Stromunterbrechungen angekündigt. Das Theater Za Suzunari in Setagaya, wo unsere Premiere stattfand, war zwar nicht von den Unterbrechungen, betroffen, aber wir wollten trotzdem so gut es ging Strom sparen. Wir machten also Urayaneura zur „kleinsten Theaterbühne der Welt“, und verbrauchten, um ein möglichst kleines Bühnenbild zu bekommen, bei der Beleuchtung nur etwa ein Viertel oder ein Fünftel Energie. Dies war uns zusätzlich ein Ansporn, die Aufführungen konsequent durchzuführen.
Urayaneura ist eine Koproduktion, für die auch Schauspieler aus dem Ausland nach Japan gekommen sind. Sie alle waren völlig überraschend mit dieser Krise konfrontiert worden, kamen aber dennoch aus der Überzeugung, dass wir alle Theaterleute sind, aus Indonesien und Korea und halfen, die Aufführung gemeinsam auf die Beine zu stellen. Wir sehen uns einer Situation gegenüber, die wir so noch nicht erlebt haben. Aber es ist meiner Überzeugung nach die Aufgabe von uns Theaterleuten, nicht nur Beobachter der Gesellschaft um uns herum zu sein, sondern das Theater in unseren Herzen, Gedanken und Taten fortzusetzen. Wir waren nicht unmittelbar in unserer Existenz bedroht, weshalb wir, solange der Alltag in unseren Bezirken funktionieren würde, in den Theatern, die Orte des Austauschs sind, weiterhin an unseren eigenen Projekten arbeiten wollten.
Immer noch hoffen wir auf das Wohlergehen der Betroffenen dieser Krise. Wir beten weiter dafür, dass die Seelen der vielen Opfer im Jenseits zur Ruhe kommen. Wir ziehen den Vorhang auf. Viele Veranstaltungen sind abgesagt worden, aber die Besucherzahlen an diesem Tag waren überwältigend.
Es geht nicht nur um den Moment. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir von nun an leben wollen. Durch die Erdbebenkatastrophe sind Arbeitsstätten beschädigt worden, es gab aufgrund betrieblicher Einschränkungen zahlreiche Entlassungen, es haben viele Restaurants geschlossen, weil ihre Angestellten in ihre Heimatländer zurückgegangen sind, und es tauchten nicht wenige „Arbeitsflüchtlinge“[2] auf.
Der Bezirk Suginami hat sofort in Zusammenarbeit mit öffentlichen Einrichtungen in Gunma-Higashi-Agatsuma angeboten, diese als Notunterkünfte zu nutzen. Man hat Busse zur Verfügung gestellt und viele Betroffene aus Fukushima und Minamisoma aufgenommen. Auf dem Weg zu einem Gespräch mit dem vielbeschäftigten Bezirksbürgermeister im Bezirksrathaus habe ich Hosaka Nobuto getroffen. Unter seiner Ägide hatten Bürger des Bezirks Sachspenden an die Betroffenen angeregt, und die für das Za Kōenji (das städtische Theater, mit dem ich über die Japan Playwrights Association zusammenarbeite) zuständigen Mitarbeiter des Bezirksamtes für Infrastruktur hatten bei den Vorbereitungen für die Spendenaktion mitgewirkt. Man war sich schnell einig. Mit Phantasie und Pragmatismus konnte man rasch Ergebnisse vorweisen. Die landesweiten Kommunalwahlen wurden wie geplant durchgeführt, in drei Präfekturen wurden die angekündigten Gouverneurswahlen vorangetrieben. Warum machte man den Beamten, die ohnehin alle Hände voll zu tun hatten, mitten in diesem Ausnahmezustand noch mehr Arbeit? Hier wurde eine einseitige Entscheidung der Regierung forciert. Soweit ich weiß, waren die Beteiligten in den Gemeinden ratlos. Man könnte meinen, der Staat würde in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt, dringend nötige Hilfsmaßnamen sich verzögern, und umsichtige Kandidaten einen derartigen Aktionismus deshalb ablehnen.
Es wird Jod im Leitungswasser gemeldet, das für Säuglinge gefährlich ist. Ständig werden Strahlungsmessungen und Grenzwerte aktualisiert. Es ist zwar Pollenzeit, aber was sollen die Masken? Auch dieser Scherz läuft ins Leere. Die Verunsicherung nimmt zu, sie verschwindet nicht. Für uns gibt es weiterhin nur Bekanntmachungen aus dem Kaiserlichen Hauptquartier[3]. Die Regierungsparteien bieten der Opposition eine große Koalition an. Von einer Vereinigung zur Unterstützung des Kaiserlichen Systems kann man nicht sprechen. Jeder Staatsbürger weiß um die Inkohärenz und die Inkonsistenz dieser Politik, die nichts mit nationaler Einheit zu tun hat.
*
Aus meiner eigenen Generation ist mittlerweile zu hören: „Wenn man damals geahnt hätte, dass es so weit kommen würde – man hätte sich mit mehr Nachdruck gegen die Atomkraft aussprechen sollen“. Ich selbst war in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nicht in der Anti-Atombewegung aktiv. Ich wusste um die Gefährlichkeit der Atomkraft und war auch der Meinung, dass ihre Anwendung kritisch zu sehen sei. Aber für mich genommen glaube ich, dass – als Kritik gegen die Verschärfung des Informationskapitalismus – der verantwortliche Tennō die Logik seiner eigenen Aktivität konstruierte, indem er sich auf die zwei Punkte konzentrierte, als ob er etwas tun müsse, bevor der Friede endet, während er keine Verantwortung für den Krieg übernimmt. Die Umweltparteien und viele derjenigen, die sich die Atomgegnerschaft auf die Fahnen geschrieben hatten, kamen mir oft allzu selbstgerecht und suspekt vor.
Zu dieser Zeit trat Yoshimoto Takaaki mit Hankaku iron („Gegen die Atomkraft“, 1982 erschienen bei Shin’ya Sōshosha) auf den Plan. In diesem Buch kritisierte er eine „Erklärung von Schriftstellern, die das Risiko eines Atomkriegs anklagen“. Unter der Ägide von Nakano Kōji wurde sie von 20 Millionen Menschen unterzeichnet und an die UN geschickt. Diese Bewegung von Anti-Atom-Intellektuellen kritisierte einmütig die Regierung Reagan, die in Westdeutschland den Einsatz von Kernenergie vorangetrieben hatte, und die der Sowjetunion „friedliche Zusammenarbeit“ bescheinigte. Sie vertrat die Meinung, dass wer sich gegen Atomkraft ausspreche, explizit sowohl die USA als auch die Sowjetunion kritisieren müsse.
Yoshimoto sprach sich gegen einen „Atomkrieg“ aus, und er bezeichnete die Anti-Atom-Gruppen als „Personen, die von niemandem kritisiert werden, und die große Reden von Gerechtigkeit schwingen“, sprach von „gesellschaftlichem Faschismus“ und verglich die Bewegung mit der Nihon bungaku hōkoku kai[4]. Für mich war seine Logik, dass die Anti-Atom-Bewegung der Sowjetstaaten folglich die Unterdrückung der Arbeiter und der Bürger in Polen verheimliche, nicht nachzuvollziehen. Auch Yoshimotos Begründung, die Anti-Atom-Bewegung habe ihren Ursprung in der ehemaligen Sowjetunion, hielt ich für fragwürdig. Denn ich fragte mich, ob eine derart komplizierte Konstruktion notwendig sei, um einen kapitalistischen Staat, der dabei ist, in einen Krieg zu rennen, zu kritisieren, und ob es nicht auch Menschen gäbe, die den Standpunkt vertreten, dass der Fall Japan kein internationales Problem ist, sondern die sich aus prinzipiellen Überlegungen heraus gegen die Atomkraft aussprachen.
In puncto Atomkraft, behauptete Yoshimoto, vermenge die etablierte Linke in ihrer Argumentation gegen Atomkraft eine reaktionäre Ethik, die sich nicht explizit gegen Wissenschaft und Technologie wende, mit „Wissenschaft“ und „Politik“. Yoshimoto widersprach der Kritik der Anti-Atom-Gruppen, die argumentierten, auch die friedliche Nutzung von Atomkraft sei letztlich mit militärischer Nutzung und mit der Entwicklung von Waffen verbunden. Yoshimotos Denken war von dem Optimismus genährt, dass die „Befreiung der Kernenergie durch die Wissenschaft“ gleichbedeutend sei mit der „Erlangung der Kontrolle über die Kernenergie“. Außerdem bedeute sie einen Schritt zum Verständnis der Struktur des Universums, des Ursprungs des Materiellen. Auch als die Anti-Atom-Bewegung 1986 nach dem GAU in Tschernobyl ihren vorläufigen Höhepunkt erlangte, bezeichnete Yoshimoto eine Linke, die die Kernenergie ablehnt, als fortschrittsfeindlich, sprach von einer „Anti-Doktrin gegen den Bestimmungsort der Geschichte der Zivilisation“, einem „Rückfall in die primitive Natur“ und von einer „erschreckenden Ignoranz“.
Imawano Kiyoshirō hat auf seinem Album Covers (RC Succession) Antiatomkraft-Lieder gesungen. Der Verkauf unter dem Label von Toshiba, einer Großfirma, die auch mit Unternehmen aus dem Bereich Kernenergie zu tun hatte, wurde gestoppt (1988). Aus heutiger Sicht ist das einer der Fälle, in dem das Antiatomare Teil zum Konsumgut geworden war, ohne dass es dabei mit einer „Bewegung“ oder mit der „Machtfrage“ in Verbindung gestanden hätte.
Meine Generation hat die reinste Form der Erziehung in der sogenannten „Nachkriegsdemokratie“ erhalten. Es war eine Zeit, in der man „Frieden“ und „Pazifismus“ nicht vor dem Hintergrund einer Ideologie verstand, sondern dies in erster Linie als Selbstverständlichkeit und absolute Richtigkeit dachte. Es liegt ein Funken Wahrheit in Yoshimotos Feststellung, dass es nichts bringe, einfach nur ohne eine konkrete Doktrin an den Frieden zu appellieren. Das irritierte mich, und ich fühlte mich manchmal der eigenen Generation fremd. Die meisten meiner Generation – zu keiner konkreten Aktion fähig, aber fanatische Kriegsgegner und Pazifisten –, riefen triumphierend: „Soll man denn nicht, wenn es zum Krieg kommt, dagegen sein?“ Was mich damals von dem, was Yoshimoto sagte, am heftigsten getroffen hat, war der Satz: „Was ist das denn für eine Bewegung, die noch nicht einmal ein ideales Modell ihres sozialistischen Staates vorlegt?“ Natürlich konnte auch Yoshimoto selbst kein „ideales Modell“ vorweisen. Die Problematik im Falle Japans liegt wohl in der Tatsache, dass die Vielzahl von politischen Abhandlungen sich darauf beschränken, die Theorien anderer zu negieren, bestehende Logiken zu korrigieren und zu kritisieren und so nur einen engen methodischen Diskurs führen, ohne eine eigene Denkweise darzulegen.
Heute bewundern Kinder Politiker nicht mehr. Man wartet in der Politik auf Fehltritte und Amtsverluste, abwechselnd werden Standpunkte und zentrale Posten gewechselt. Obwohl die Unselbständigkeit groß ist, plustert man sich auf. Wer von der Hauptlinie abweicht, wird zum „Anti-Alles-Deppen“, und ständig dem Gegner in die Falle tappen. Das sind die vielen Gesichter der sogenannten Erwachsenen.
Sehr lange hatten wohl viele Menschen die Empfindung, dass Japan allmählich auf den Untergang zusteuere. Angesichts der Resignation, kann es keine Ideale geben. Yoshimotos damalige Feststellung, dass die Gegenwart ungewiss sei und die Last der Zivilisation uns müde mache, trifft bis heute vielleicht zu und bildet die zutreffende Empfindung der Menschen in einer Phase ab, die vom „aufrichtigen Geist der Nachkriegsdemokratie“[5] bestimmt wird.
Der Film Stalker des russischen Regisseurs Andrej Tarkovskij aus dem Jahr 1979 spielt in einer Gegend, in der es – ohne genaue Erläuterung eines Grundes – viele Opfer in der Bevölkerung gegeben hat, und das zu betreten die Regierung untersagt hat: die „Zone“. Es hieß zwar oft, dass der Film den Unfall von Tschernobyl antizipiert habe, eventuell diente jedoch eher die Atomkatastrophe im Ural von 1957 als Hintergrund? In der letzten Szene von Stalker geschieht ein kleines „Wunder“. Es hat eigentlich kaum Bezug zur Handlung, und soll den Zuschauer erleichtern, „Erlösung“ bedeuten. Aber wie sieht es in der Realität aus? Man kann sich wohl nicht so einfach ein Wunder wünschen. Vielleicht ist die Balance, die wir bis heute zwischen der aufgetürmten Zivilisation und dem Fortschritt gehalten haben, auch so etwas wie ein Wunder.
Allerdings sind die Errungenschaften der Menschheit zugleich ihre Probleme. Wir müssen zu der Einsicht gelangen, dass diese Probleme gelöst werden müssen, und wieder damit beginnen, die unmittelbar vor uns liegende Realität als die unsere anzuerkennen.
*
Wir wollten weiter in Tokyo leben, alles sollte möglichst normal verlaufen. Seit längerem war eine Dienstreise vereinbart. Hier hieß es zwar, alles würde wie geplant von statten gehen, doch wäre ich dann ja während unserer Aufführung nicht vor Ort gewesen. Ich flog deshalb nach einigem Zögern nur für zwei Tage nach London. Es handelte sich um eine Lesung anlässlich der englischsprachigen Veröffentlichung meines Stückes Blind Touch. Einer meiner Schauspieler bestärkte mich in meinem Vorhaben und sagte mir, gerade in Anbetracht der gegenwärtigen Situation dürfe man nicht aufhören, das zu tun, was man sich vorgenommen hat. Bei meinem Abflug war der Flughafen Narita wie ausgestorben. Auf dem Hinweg saß ich in Seoul mehrere Stunden im Flugzeug fest. Offenbar wurde getankt und die Crew von British Airways gewechselt.
Während meines zweitägigen Aufenthaltes standen eine Besprechung des englischen Textes, Proben, eine Lesung und ein Vortrag auf dem Programm. Es gab auch eine Spendenaktion für die Betroffenen und aktuelle Berichte über die Situation in Japan. Es muss ziemlich schwierig sein, sich von der anderen Seite der Erde aus in die Lage der Betroffenen in Japan hineinzuversetzen. Andererseits nahmen die Menschen in London, gerade weil sie nicht vor Ort waren, die Informationen über die Katastrophe in gewisser Weise objektiver wahr. Gleichwohl kam, wenn ich sagte, dass ich sofort wieder nach Japan zurückkehren würde, Anteilnahme von so vielen Menschen. In einem Theater im Westend wurde eine Aufführung mit den Worten begonnen „In Japan sind 500.000 Menschen von einer Erdbebenkatastrophe betroffen und haben ihre Häuser verloren. Lassen sie uns helfen und an das Rote Kreuz spenden“: Die Schauspieler, auch die berühmten unter ihnen, konnte man nach der Aufführung in der Lobby mit Plastikeimern, auf die die japanische Flagge gemalt war, Spenden sammeln sehen.
Am Théâtre du Rond-Point in Frankreich, das letztes Jahr ein Stück von mir gezeigt hat, wurde ebenfalls ein Spendenevent veranstaltet, um Geld für die Opfer der Katastrophe zu sammeln. Ich kam bei herrlichem Wetter nach Japan zurück. Nur noch wenige Menschen trugen Masken. Alle wirkten, als sei nichts passiert. Die Situation im AKW Fukushima, die Strahlung − nichts hat sich wesentlich gebessert. Haben wir uns denn schon mit der Situation abgefunden?
Der 11. März wird vielleicht mein oder unser zweiter Geburtstag werden.
Und es wird darum gehen, dass wir für uns zu einer neuen Lebensweise finden.
Sakate Yōji (*1963), Gründer und künstlerischer Leiter der in Tōkyō ansässigen Theatergruppe Rinkōgun, zählt zu Japans renommiertesten zeitgenössischen Dramatikern. Der Autor – Vorsitzender der Japan Playwrights Association, mehrfach mit Theaterpreisen ausgezeichnet und auch im Ausland mittlerweile nicht mehr unbekannt – tritt regelmäßig als Kommentator und Kritiker nicht nur der japanischen Theaterszene, sondern vor allem der Gesellschaft des Landes in Erscheinung.
Der Essay „Ein zweiter Geburtstag“ (Nidome no tanjōbi) erschien in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Sekai, die sich unter der Überschrift Ikiyou! der Erdbebenkatastrophe vom 11. März 2011 widmet, und zeichnet sich wie Sakates Theatertexte durch bissige Seitenhiebe und pointierte Zuspitzungen aus.
Sakate findet in diesem Essay allerdings noch deutlichere Worte als in seinen Theatertexten und den meisten seiner früheren Essays. Indem er auf Wortmeldungen anderer japanischer Diskutanten und Exegeten der Krise reagiert und Namen nennt, wo er bisher üblicherweise mit Anspielungen arbeitete, offenbart er ein Maß an persönlicher Betroffenheit, das vor allem vor dem Hintergrund seiner Forderung nach eigenverantwortlichem Denken und Handeln jedes Einzelnen innerhalb der japanischen Gesellschaft verständlich wird: „Haben wir uns denn schon mit der Situation abgefunden?“
Ziel und Hoffnung der Übersetzerin ist es, einen Einblick in die Denk- und Argumentationsweise des Kritikers Sakate Yōji zu ermöglichen und auch das Interesse an seinen Arbeiten für das Theater zu wecken.
[1] Sakate verwendet hier die offizielle Bezeichnung Higashi Nihon Daishinsai (東日本大震災)
[2] Japanisch: バイト難民 (baito nanmin).
[3] Anspielung auf das Kaiserliche Hauptquartier Daihon‘ei (大本営), das vor allem während des Pazifikkrieges von 1937 bis 1945 zu Propagandazwecken gezielt geschönte und zum Teil verfälschte Informationen zum Kriegsverlauf (大本営発表) an die japanische Bevölkerung weitergab.
[4] „Patriotische Gesellschaft für Japanische Literatur“, eine während des Zweiten Weltkrieges gegründete Gruppe von Schriftstellern, deren Aktivitäten von der Einheitspartei Taisei yokusan kai („Vereinigung zur Unterstützung des kaiserlichen Systems“) und dem Naikaku jōhōkyoku (Nachrichtendienst der Regierung) gefördert wurden, und der auch renommierte Schriftsteller wie Kawabata Yasunari angehörten.
[5] Japanisch: 戦後民主主義的正義 (sengo minshûshûgi-teki seigi).