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Kayama Rika in AERA - Artikel 1

Original: AERA Vol.24 No.14 vom 4. April 2011, S. 81-85

Übersetzung von Johanna Mauermann, M.A.(Universität Frankfurt) (Juli 2011)


[aus dem Inhaltsverzeichnis]

Kayama Rika berichtet vom Ort des Geschehens: "Menschlichkeit im Katastrophengebiet“

Warum ein 18-jähriger, der seine Familie verloren hat, Freiwilligendienst leistet / Der Stress für die Opfer der Katastrophe / Ein Arzt sieht die Wunde, die in das betroffene Gebiet gerissen wurde

 

[Artikel S. 81, Redaktion: Kobayashi Akiko]

Kayama Rika berichtet vom Ort des Geschehens
Verzweiflung und Hoffnung im Katastrophengebiet

Die Bewohner, die alles verloren haben, empfinden in ihrem Inneren Trauer und Wut, wenn Sie in ihre Städte zurückkehren. Wir begleiten die Psychiaterin Kayama Rika auf ihrem Weg durch das Gebiet, das dem großen Erdbeben und dem Tsunami zum Opfer fiel.

Die Schlammwelle, die die Stadt überrollt hat, ist längst getrocknet und treibt nun in feinen Staubpartikeln durch die Luft. Als man die Katastrophe gerade vergessen will, hört man ein ächzendes Geräusch vom Boden. Ein Nachbeben! Mit den Erschütterungen der Erde steigt auch der Gestank von brackigem Meerwasser auf.

Die Bürger haben langsam begonnen, in ihre Städte zurück zu kehren, von denen nichts außer Schutt übrig geblieben ist. Auf der Suche nach wertvollen Besitztümern und nützlichen Gegenständen gehen sie auf ihre eingestürzten Häuser zu. In ihren Händen halten sie kein einziges Gepäckstück, ebenso wenig in ihren Fahrradkörben. Eine Frau Mitte Vierzig ist gut vier Kilometer von der Notunterkunft bis hierher gelaufen. Ihre Schritte sind unsicher. „Ich kann die Hoffnung erst aufgeben, wenn ich mein verschlammtes und zerstörtes Haus mit eigenen Augen gesehen habe.“ Von dem Lebensmittelgeschäft, in dem sie immer eingekauft hatte, ist nur noch das Stahlgerüst erhalten geblieben. „Sogar dieser Laden…“, murmelt sie und bleibt plötzlich stehen. Zu ihrem Haus wäre es nur noch ein Stück gewesen. Wie, um sich innerlich auf das Kommende einzustellen, atmet sie tief die muffige Luft ein. Zweimal dreht sie sich noch um, dann ist klar, dass von den Häusern ringsum kein einziges mehr steht.

Vom Bahnhof Sendai bis zum Küstenstädtchen Arahama im Verwaltungsbezirk Wakabayashi sind es nur zehn Kilometer in südöstlicher Richtung. Von hier stammten die Berichte über „200-300 Leichen am Strand“, die bald nach dem Tsunami gesendet wurden. Die große Anzahl an Toten verdeutlichte, dass sich hier eine furchtbare Katastrophe ereignet hatte. Ganz Japan war schockiert.

Seit dem Erdbeben sind zehn Tage vergangen sind, doch aufgrund der Nachbeben besteht weiter die Gefahr von Tsunami oder herabfallenden Trümmern. Das Betreten des Ortes ist daher nur beschränkt möglich. An der Stadtgrenze zu Arahama stehen Polizisten. Alle außer den Einwohnern müssen dort ihre Autos abstellen. Die restlichen drei Kilometer geht man zu Fuß.

 

Der Polizist kehrte nicht zurück

Plötzlich wackelt es erneut. Dreht man sich um in Richtung Meer, fällt die ruhige, weite Wasseroberfläche auf – ein Kontrast zur verwüsteten Stadt. Eine Möwe fliegt umher, zwischen zwei Wellen glitzert das Wasser. Dieser Gegensatz zwischen zerströrtem Land und friedlichem Meer lässt Schwindelgefühle aufkommen.

Als ich (Anm.: Kayama) den Ort der Tsunami-Katastrophe sah, überfiel mich ein Gefühl der  Niedergeschlagenheit. Das, was wir aufgebaut haben, ist nicht nur in Trümmer zerfallen, nein, es liegt nun auch noch störend im Weg. Während wir uns nun am liebsten dafür ohrfeigen würden, ging es uns doch bis dato um Materielles und genau diesen Reichtum  –  gemäß der Parolen: „Die Wirtschaft ankurbeln!“, „Die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen!“ „Das Jahreseinkommen vervielfachen!“. Was war bloß mit uns los gewesen?

Bei gut Situierten kommt es in letzter Zeit häufig zu sogenanntem danshari, zu „ablehnen – wegwerfen – emotional loslösen“ (Anm. Eine neue Wortkreation um die Jahrtausendwende von der spirituellen Beraterin Yamashita Hideko). Danshari bedeutet, sich zu bemühen, Gegenstände loszuwerden, die man sich zuvor hart erarbeitet hat. Dieser Tsunami hat in einem einzigen Moment, ohne den Menschen Zeit zum Nachdenken zu lassen, alles mit sich gerissen. Willkürlich, einfach alles, auch Unersetzliches. Jegliche Anstrengung, Dinge anzusammeln, aber genauso die Bemühung, anspruchslos zu sein und sich der Sachen zu entledigen, erscheint vor diesem Hintergrund wie ein schlechter Scherz.

Vom Meer fortgerissen wurde auch der Polizist Watanabe Takehiko (58), Leiter der Wache Arai, Polizeipräsidium Sendai-Süd. Gleich nach dem Erdbeben war er mit seinem Streifenwagen aufgebrochen, um die Anwohner vor dem Tsunami zu warnen und bei der Evakuierung zu helfen. Er muss von der Küste aus in Richtung einer großen Kreuzung gefahren sein, die einen Kilometer im Landesinneren liegt. Genau einen Kilometer weiter fand man später das furchtbar zerstörte Auto. Die Leiche des Polizisten, die nach mehreren Tagen entdeckt wurde, konnte nur  mehr über die mitgeführte Marke identifiziert werden.

 

Eine Reihe von Fotoalben

Von Watanabe heisst es, er sei ein stiller Mensch gewesen, dem seine Arbeit viel bedeutet habe. Für die Wache waren sechs Polizisten zu Schichten mit je zwei Personen eingeteilt gewesen. Am 11. März war Watanabe Diensthabender gewesen: dieser zufällige Zustand hat ihn das Leben gekostet. „Das Meer ist widerlich“, meint Watanabes Kollege mit brüchiger Stimme und Tränen in den Augen. Ob ihm wohl der Gedanke gekommen ist, dass es auch ihn hätte treffen können? Der Kollege reisst sich zusammen, spricht weiter: „Es bringt nichts, jetzt über die Verstorbenen nachzudenken. Priorität hat im Moment die Suche nach den Überlebenden.“ Es bleibt keine Zeit, die Toten zu betrauern oder traurig zu sein. Man muss einen Schritt nach vorne tun; das Gefühl, mit einer wichtigen Aufgabe betraut zu sein, treibt einen jeden an.

Im November letzten Jahres habe ich meinen Vater verloren. Es ist an und für sich etwas völlig Natürliches, einen über 80-Jährigen Elternteil zu verlieren. Trotzdem war es eine einschneidende Erfahrung. So schrecklich es auch ist, dass jeder einmal sterben muss, habe ich damit selbst erfahren, dass wir Menschen in der Lage sind, Trauer zu überwinden. Durch das Erdbeben und den Tsunami sind in einem Augenblick 10.000 Menschen gestorben, man spricht sogar von 20.000. Ob sich dieses Unglück mit einer Erfahrung wie meiner vergleichen lässt oder ob es diese Dimension weit übertrifft, ist eine Frage, die mittlerweile eine große Menge Menschen beschäftigt. Der Verstand hat es begriffen, aber die Wirklichkeit übersteigt alle Vorstellungen.

Tagelang haben Polizei und Soldaten der Selbstverteidigungskräfte in Arahama ihre Suchaktion fortgesetzt. Sie fanden dabei über 100 Leichen. In der Stille der verwüsteten Stadt sind nun nur die schweren Maschinen zu hören, die den Schutt abtragen. Auf den überschwemmten Reisfeldern steht nach wie vor das Meerwasser. In diesen Becken liegen noch viele Tote. Die Polizisten stecken bis zu den Oberschenkeln in der Brühe und durchgraben den Boden.

Auf einer Straße nahe der Grundschule von Arahama liegen aneinandergereiht Fotoalben und Hefte von Schülern. Sie sind von Schmutz überzogen. Aufgeschlagen sind die Seiten, die noch am wenigsten in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Alben und Hefte stellen eine kleine Trauerbekundung dar. Sie wirken wie Einkläger der Existenz ihrer Besitzer: „Ich war hier!“ Ein Soldat, der  an den Aufräumarbeiten beteiligt ist, erklärt: „Wir haben die Alben heute entdeckt. Wir wollten sie den Familie zeigen“. Er habe auch darüber nachgedacht, sie zu einer Notunterkunft zu bringen, aber davon gibt es zu viele. Wenn die Familien zurückkehrten, wäre es schön, wenn sie bei all der Verzweiflung über den Anblick der Szenerie wenigstens Erinnerungsstücke mitnehmen könnten. Die Alben seien zwar teilweise zerstört, weil sie unter dem Schutt begraben worden waren, doch er habe sie mit seiner Aufräummaschine nicht wegräumen können.

 

Der Wunsch, etwas zu tun

In den Medien wird tagtäglich über die Versorgungsengpässe in den Notunterkünften berichtet. Zwischen den Notunterkünften bestehen große Unterschiede hinsichtlich dessen, was an Waren vorhanden ist und inwiefern man die wichtigen Versorgungsleitungen, wie Strom, Gas und Wasser, wiederherstellen konnte. Ebenso unterscheidet sich die Lage der Evakuierten je nach Grad ihrer Betroffenheit. Der Eingang zu einer Grundschule in Sendai, die als Notunterkunft dient, strotzt vor schlammigem Dreck. Zehn Tage nach der Katastrophe lässt sich dort die sogenannte „Habitat-Isolation“ (sumiwake) beobachten (Anm.: Der Fachbegriff aus der Biologie bezeichnet das örtliche Zusammenleben zweier Populationen, zwischen denen es bedingt durch verschiedenartige Lebensräume, wie Wasser oder Baumgipfel, kaum Berührungspunkte gibt). Viele derjenigen, die in der Sporthalle untergebracht sind, wissen nicht, ob ihr Haus weggeschwemmt wurde oder ob ihre Familie in Sicherheit ist; man sieht hier zahlreiche Menschen, die in Decken gewickelt geistesabwesend vor sich hin blicken. In der Nähe des Eingangs sind die Opfer einquartiert, deren Haus gerade noch dem Sog der Welle entkommen ist. Für diese Gruppe gibt es noch „etwas zu tun“ (suru koto ga aru). Ihre Mitglieder verlassen jeden Morgen das Lager, um in ihren Häusern aufzuräumen. Zum Abendessen kommen sie wieder zurück. Der Schmutz im Eingangsbereich der Turnhalle stammt von ihren Gummistiefeln.

Es gibt kein fließendes Wasser, deshalb sammeln sich in den provisorischen Toiletten die Exkremente an. Aus unerfindlichen Gründen scheitert in diesem Viertel die Stromversorgung ausgerechnet in der Notunterkunft. Die Bewohner dort müssen ihre Nächte in Finsternis verbringen, während sie gleichzeitig in den Häusern ringsum die Lichter hell leuchten sehen. Erschöpfung und Stress erreichen einen neuen Höhepunkt. In einigen Fällen entladen sich schon beim Frühstück die Spannungen in Streitereien um den Suppenanteil eines jeden. „Etwas zu tun zu haben“ bedeutet eine emotionale Stütze und eine leise Hoffnung auf einen Alltag. Man hat es, oder man hat es nicht – dazwischen liegen Welten.

Die vom Tsunami betroffenen ufernahen Landstriche bestanden aus vielen kleinen Gemeinden. So teilt man hier das Bewusstsein, mit Menschen in einem Raum zu sein, die das Gleiche durchgemacht haben. Der Tod einer nahestehenden Person wird gemeinsam betrauert, durch Gespräche über Heldentaten versucht man das Erlebte zu überwinden. Solche Interaktionen wären in Tôkyô undenkbar. Man muss dennoch festhalten, dass diese zunächst „gleiche Lage“ eine Spannbreite an erlittenen Verlusten und Schäden umfasst. Blickt man auf den Schauplatz der Katastrophe, kann man rational nicht nachvollziehen, warum das eine Haus von den Fluten fortgerissen wurde und das andere nicht. Die Eltern eines Bekannten, untergekommen im Evakuiertenlager Ishinomaki (Anm.: Ortschaft im östlichen Zentrum der Präfektur Miyagi), antworteten auf die Bitte, doch besser nach Tôkyô zu kommen: „Wir würden uns schlecht gegenüber den anderen fühlen, wenn wir als einzige von hier wegkommen sollten. Das geht nicht.“ Gerade diese bescheidene Zurückhaltung und Rücksicht ist es aber, aus der tatsächlich großer Stress entsteht.

Weiter in Richtung Hanglage Sendais, sieht man kaum mehr eingestürzte Häuser. Soll das wirklich die gleiche Stadt sein? Man glaubt an eine Sinnestäuschung. Aber auch hier gibt es freilich Opfer der Katastrophe. Aktuell, am 25. März, ist die Gasversorgung der Stadt noch immer fast vollständig unterbrochen. Auch die Wasserleitungen sind in einzelnen Bezirken nach wie vor nicht repariert. Aufgrund von Engpässen bei der Benzinlieferung können die Menschen weder zur Arbeit fahren noch Einkäufe erledigen. Eingesperrt im eigenen Haus, erträgt man geduldig die widrige Lage.

 

Ein Schuldgefühl im Wert von 5.000 Yen

Das Haus von Katô Tadashi (70), der im Stadtteil Izumi lebt, hat das Erdbeben selbst ohne Schaden überstanden. Es hat sich als effektiv erwiesen, dass im Haus als Vorsichtsmaßnahme für ein Erdbeben eine tragende Stütze aus Zypressenholz verbaut worden war. Für den Katastrophenfall hatte Katô zusätzlich über zwanzig Plastikflaschen mit Wasser bereit gestellt. Über das Dach fing er Regenwasser auf, das er zum Spülen der Toilette benutzte. Die Lebensmittel aus dem Kühlschrank, der nicht mehr mit Strom versorgt wurde, aß er in Rationen. Nach einer Woche in seinem Haus überkam ihn jedoch ein Gefühl der Hilflosigkeit. Ohne Benzin konnte er nicht einkaufen fahren. Wie lange würde es wohl dauern, bis die Wasser- und Gasversorgung wieder funktionieren würde? Das trockene Brot und seine Dosen-Vorräte waren nun restlos aufgebraucht. Um sich Essen zuzubereiten, begann er mit Regenwasser zu kochen. In den nahegelegenen Notlagern würde, wie es hieß, auch Essen an die Opfer verteilt, die noch in ihren Häusern lebten. Dort hätte es je eine Portion Gemüse, Obst und Reis, sogar eine kleine Menge Bananen und Orangen für ihn gegeben. Vermutlich, so überlegte er, würden doch Familien mit kleinen Kindern in einer viel misslicheren Lage sein. Er kehrte also mit leeren Händen nach Hause zurück: „Ich habe doch nur eine kleine Schramme abbekommen.“

Eine Frau im gleichen Stadtteil hätte vor Freude am liebsten Luftsprünge gemacht, als eine Woche nach dem Beben Wasser aus dem Hahn zu tröpfeln begann. „Ich habe wieder Wasser!“, wollte sie ausrufen, verbot es sich aber. Das wäre unverzeihlich gewesen gegenüber denen, die noch ohne Wasser leben mussten, geschweige denn gegenüber denen, deren Haus fortgerissen worden war. Vieles legt sich ihr in diesen Tagen wie ein Schatten auf das Herz. Dass das gerade neu gekaufte Auto des Ehemanns, mit dem er zur Arbeit in die Stadt Natori gefahren war, vom Tsunami weggespült wurde und nur der Kredit dafür übrig geblieben ist. Oder dass sie, um ihr Auto zu tanken, die ganze Nacht im Auto verbrachte und am Ende doch kein Benzin bekommen hat. Dass Verwandte immer noch als vermisst gelten…

„Ich habe überlebt und mein Haus steht zudem. Also gehöre ich zu den Glücklicheren. Aber das heisst nicht, dass ich nichts verloren habe.“ Als sie dann endlich wieder tanken konnte, hätte ihr der Geruch des sehnlichst vermissten Treibstoffes die Tränen in die Augen getrieben.

Eine andere Frau, die bei einem Autohändler arbeitet, erzählt von ihrem ersten Arbeitstag nach einer Woche Abwesenheit. Ihre allererste Aufgabe sei es gewesen, den Kunden das Bergen ihrer vom Tsunami mitgerissenen Wägen in Rechnung zu stellen. Sie hätte große Schuldgefühle gehabt, diesen Menschen, die möglicherweise alles verloren hatten, 5.000 Yen abzunehmen. Aber man müsse den Betrag einfordern.

Es mag mit der Eigenschaft der Einwohner von Tôhoku zusammen hängen, dass sie sehr viel Geduld haben. Doch auch objektiv betrachtet, zeigt sich dieses Bild: obwohl die Menschen in einer schrecklichen Notlage sind, fühlen sie sich schuldig und haben ein schlechtes Gewissen, sobald sie auf jemanden treffen, der noch mehr verloren hat. Dies ist natürlich ein sehr starkes, kostbares Gefühl, das die Basis für die gegenseitige Hilfsbereitschaft bildet. Ohne dadurch entstehende Schäden zu prognostizieren, bedeutet diese Haltung jedoch auch, dass man den Zustand des Trübsals in die Länge zieht.

Jeder einzelne hat sein eigenes Päckchen zu tragen und empfindet dabei zusätzlich das Leid der anderen mit – eine wirklich schreckliche Sache. Dabei ist an dieser Empathie grundsätzlich nichts falsch. Doch gibt es keinen Grund, sich zu fühlen, als lebe man unangemessen oder als sei man egoistisch. Auf die indirekten Opfer, also diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben oder aber gezwungen sind, einen beschwerlichen Alltag zu meistern, wirken mehrere belastende Faktoren. So gesellt sich zu dem Gefühl der Entfremdung – nämlich links liegen gelassen worden zu sein – auch das geduldige Ertragen und die Last der „Schuld“, eine gefühlte Last, die sich substantiell von der der unmittelbaren Opfer unterscheidet.

 

Tun, was die Familie getan hätte

Im „Natori Kulturzentrum“, ebenfalls zum Notlager umfunktioniert, spielen junge Menschen als freiwillige Helfer mit den Kindern. Einer von den Helfern  ist der 18-jährige Numata Yûya, der gerade seinen Oberschulabschluss gemacht hat. Als ich ihn anspreche, beginnt er zu erzählen: „Wir waren eine fünfköpfige Familie. Ich bin wahrscheinlich der einzige, der überlebt hat.“ Auf seinem Handrücken sind unzählige Schnittwunden. Er trägt das höchste Pfadfinder-Abzeichen und hatte für Ende März eine Einladung zu einem Besuch im offiziellen Wohnsitz des Premierministers erhalten. Als er gerade zu Hause mit dem Zusammenstellen von Materialien für sein neues Projekt beschäftigt war, wurde er von dem heftigen Beben unterbrochen. Er rannte in das Zimmer seiner Großmutter und beschützte sie mit seinem Körper vor herunterfallenden Gegenständen. Als das Beben aufhörte, rappelte sich auch sein älterer Bruder auf und rief: „Yûya, hol‘ Seil und Arbeitshandschuhe und komm mit. Das Nachbarhaus ist eingestürzt, wir müssen schnell helfen!“

Sein Vater, ein Mitglied im Stadtrat, war sofort auf das Fahrrad gesprungen, um die Nachbarsleute zu warnen. Das Tsunami-Warnsignal tönte, deshalb suchte der Junge mit seiner  Mutter, dem älteren Bruder und der Großmutter im Bürgerhaus Schutz Die Mutter kehrte noch einmal um, um einigen älteren, langsameren Personen bei der Evakuierung zu helfen. Eine Familie also, von der man sagen kann, dass sie sich zuerst um andere und dann um sich kümmerte. Die schlammige Welle flutete das Bürgerhaus. Kaum hatten sich die Augen von Yûya und seiner Großmutter getroffen, wurde er schon von der Strömung hinausgeschoben und etwa einen Kilometer weit mitgerissen. Am nächsten Tag wurde er auf einer Tatamimatte, die auf dem Wasser getrieben hatte und ihm als Floß diente, an Land geschwemmt und kam in ein  Notlager. Die Leichen des großen Bruders und der Großmutter konnten bereits identifiziert werden, die Eltern werden noch vermisst.

Der Tsunami hat ihm nicht nur sein Zuhause, sondern zudem die Familie und seine Zukunft genommen. Neben wichtigen Dokumenten wie dem Personalausweis sind auch die Unterlagen für ein Stipendium weg. Auf der zentralen Mailbox seines Handys sind 82 Nachrichten verblieben. Man erkundigt sich darin nach seinem Wohlbefinden, aber er weiss nicht, von wem die Nachrichten sein sollten.

Warum er dennoch Freiwilligendienst in der Notunterkunft leistet, erklärt er damit, dass er glaubt, seine Familie hätte das ebenso getan. Als es am 24. März ein Nachbeben der Stärke vier gab, baute er sich sofort vor den Kindern auf. Hinter ihm war ein großes Glasfenster.

 

Die Fähigkeit, Hoffnung zu schöpfen

„Zum Glück habe ich überlebt“. „Wenigstens geht es meiner Familie gut“. „Zumindest wurde die Leiche gefunden“: Derartige Aussagen sind häufig zu hören. Obwohl die Umstände so hart sind, kämpft jeder mit aller Kraft darum, „Zum Glück“ sagen zu können.

Ein Arzt, der für gewöhnlich in der Palliativpflege krebskranke Patienten betreut, bemerkt, dass ihn die Patienten hier etwas gelehrt haben: „Sogar diejenigen, denen man mitteilt, sie hätten nur noch eine Woche zu leben, sind fähig, Hoffnung zu schöpfen.“ Wenn sie zum Beispiel nicht mehr den Schulabschluss der Kinder miterleben können, so wollen sie dann wenigstens ein Foto zusammen machen. Menschen sind in der Lage, trotz tiefer Verzweiflung immer auch neue Hoffnung zu schöpfen, so glaubt er jetzt.

Der junge Numata Yûya meinte, er sei gesegnet. Ich konnte nicht anders, als nachzuhaken. Er sei dankbar, in einem Lager zu sein, in dem es keine Versorgungsengpässe gäbe und dass ihn ältere Mitschüler aus der Schule besuchen kämen. Er suche nach Aufgaben und versuche, sich nützlich zu machen. Wie es scheint, hat er die Lebensweise seiner weiterhin vermissten Eltern angenommen. Zwar mag sich das Leben urplötzlich geändert haben, nicht jedoch die eigene Persönlichkeit: Das Ich vor und nach dem Beben bildet ein Kontinuum. Selbst in einer Stadt voller Schutt und Verzweiflung bleibt dieser heilsame Teil des eigenen Ichs unverändert.

Auf der anderen Seite geraten Menschen in Tôkyô in Sorge, obwohl sie nur die Bilder am Fernsehen verfolgen. Die Nachrichten von Stromausfällen und radioaktiver Strahlung verstärken die Angstgefühle. Es gibt Tôkyôter, die aus Furcht, die Bahn fahre nicht, jeden morgen um vier Uhr aufstehen, um mit dem Handy die Verkehrslage zu überprüfen.

Die Erdbebenopfer hingehen besitzen, obwohl ihnen Unglaubliches widerfahren ist, eine positive Energie, die sie nach vorne blicken lässt. Nachdem ich die Fernsehbilder von den Trümmerbergen gesehen hatte, war ich ratlos, wie man dem je beikommen sollte. Als ich aber zehn Tage später vor Ort war, waren die Straßen doch soweit hergestellt, dass man sie gerade eben passieren konnte. Ich sah Menschen, die die Trümmer beharrlich wegräumten. Sie taten dies nicht, um im Sinne eines Wiederaufbaus Mut zu gewinnen. Sie arbeiteten auch nicht aus purer Verzweiflung von Morgen bis Abend. Sie taten einfach das, was sie in ihrer nächster Umgebung tun konnten, ruhig und sorgfältig. Das habe ich als menschliche Stärke empfunden.

 

[Arzt Okazaki Nobuo, S. 82-83]

Gespräch mit dem Leiter der Psychiatrie des Sendai Medical Center, Dr. Okazaki Nobuo[1]

„Seelische Unterstützung brauchen sowohl die Opfer als auch die Helfer“

Kurz nach einem Erdbeben schwankt der mentale Zustand eines Menschen zwischen Fassungslosigkeit und „Zum Glück habe ich überlebt.“ Darauf folgt die Phase der Solidarisierung und des gegenseitigen Helfens. Erst danach werden langsam die individuellen Ausprägungen der Lage deutlich. Wut entsteht, die mit Gefühlen der Ungleichheit verbunden ist. Es kommt auch vor, dass die Geretteten sich schuldig fühlen, weil sie sich fragen:  „Warum habe nur ich überlebt?“

Die Einwohner von Tôhoku zeichnen sich durch ihre Geduld aus. Sie machen nicht viel Aufhebens um sich. Im Moment erscheint das noch als gute Eigenschaft, aber wie wird sich diese nach Wochen und Monaten auswirken?

Bei Menschen, die ganz normal ihrer Tätigkeit nachgehen, obwohl sie ihre Familie verloren haben, lässt sich eine starke psychische Abwehrreaktion konstatieren, die den mentalen Zusammenbruch verhindern soll. Eine zeitweilige Depression ist eine normale psychische Reaktion, über die viele relativ bald wieder hinwegkommen. Bei manchen Patienten hat sich die Melancholie jedoch zu einem krankhaften psychischen Bild entwickelt. Ferner hat es schon Fälle von Halluzinationen und Wahnvorstellungen gegeben, ausgelöst durch den Anblick der zerstörten Städte und der Leichen-Bergungsarbeiten, durch die Flucht vor dem Tsunami und dem nur knapp entronnenen Tod. Es besteht meiner Meinung nach zudem die Gefahr, dass sich der Zustand von Menschen mit einem komplizierten Krankheitsbild oder von denen mit bereits diagnostizierten Krankheiten, weiter verschlechtern wird.

Ich irre mich wohl nicht, wenn ich behaupte, dass die große Erdbebenkatastrophe ein „Fest“ (matsuri) im negativen Sinne ist. Denn die Helfer, die aus ganz Japan in das Katastrophengebiet kommen, befinden sich in einer aufgeladenen Stimmung, in einer Form der Manie. Sie müssen aufmerksam darauf achten, dass sie den Opfern, die sich bemühen, ihr seelisches Gleichgewicht zu finden, nicht schaden. So ist seelische Unterstützung, „mental care“ (mentaru kea), nicht nur für die Opfer selbst, sondern auch für die Helfer wichtig.

 


[1] Lebensdaten: Geb. 1958 in Sendai; graduierte von der medizinischen Fakultät der Tôhoku Universität; Leiter der Psychiatrie des Sendai Medical Center, einem nach unabhängigen Verwaltungsrecht organisiertem Krankenhaus nach der Struktur einer staatlichen Einrichtung; Psychiater; dieses Mal selbst betroffen.
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