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El mundo, Spanien / Higuchi Kenji

Obdachlose als AKW-Nomaden in Japan – Das Geheimnis in den Kernkraftwerken

Übersetzt von Dorothea Mladenova (Universität Leipzig)


Folgender Artikel erschien am 08. Juni 2003 in der Beilage „Crónica“ der spanischen Tageszeitung „El mundo“. Die Informationen basieren auf einem Interview mit Higuchi Kenji, einem Fotografen, der für seine fotografischen Sammlungen über die Opfer von Umweltbelastungen und Atomkraftwerken bekannt ist. Der Artikel wurde ins Japanische übersetzt und auf folgender Seite veröffentlicht http://www.jca.apc.org/mihama/rosai/elmundo030608.htm. Das spanische Original kann hier http://www.elmundo.es/cronica/2003/399/1055060977.html nachgelesen werden. Die deutsche Übersetzung erfolgte auf Grundlage des spanischen Originals in Abgleich mit der japanischen Version. Unstimmigkeiten zwischen Original und japanischer Übersetzung sind in den Fußnoten vermerkt. Japanische Namen werden, anders als im spanischen Original, in der im Japanischen üblichen Schreibweise zuerst mit dem Nachnamen angegeben.


Anmerkung der japanischen Übersetzer: Diese Zeitung wurde uns vom Interviewten Higuchi Kenji bereitgestellt. Der Artikel wurde teilweise von Herrn Higuchi selbst korrigiert. Im Original sind die Fotos bunt abgedruckt. Übersetzung: Mihama no Kai [美浜の会, eine von Ōsaka aus agierende Anti-Atomkraft-Gruppierung, zuletzt vor allem in der Protestaktion gegen den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Rokkashō-mura aktiv, Anm. DM]


Die japanischen Betriebe heuern Obdachlose zum Reinigen der Kernkraftwerke an. Viele sterben an Krebs. CRONICA sprach mit den Betroffenen dieses unfassbaren Skandals

David Jiménez, Sonderberichterstatter in Tokio

Es gibt immer einen Job in der Anlage Nr. 1 des Kernkraftwerks Fukushima für diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben. Matsushita schlief gerade zwischen seinen vier Pappkartons, welche sein zu Hause geworden waren, in einem Park in Tokio, als zwei Männer sich ihm näherten, um ihm ein solches Angebot zu unterbreiten. Es bedürfe keiner besonderen Fähigkeiten, man würde ihm doppelt so viel zahlen wie bei seiner letzten Arbeit als Hilfsarbeiter auf dem Bau, und er würde nach 48 Stunden wieder zurück sein. Zwei Tage später wurden der Mann, der früher eine Führungsposition bekleidete und jetzt bankrott war, und 10 weitere Obdachlose zum 200 Kilometer nördlich der Hauptstadt gelegenen Kraftwerk gebracht und als Reinigungskräfte registriert.

„Reinigungskräfte für was?“, fragte jemand, während der Vorarbeiter ihnen Spezialkleidung austeilte und sie zu einem riesigen, zylinderförmigen Metallraum führte. Die Innentemperatur, die zwischen 30 und 50 Grad variierte, und die Feuchtigkeit zwangen die Arbeiter alle drei Minuten herauszugehen, um frische Luft zu atmen. Die Strahlungsmessgeräte hatten ihre Höchstmaße so stark überschritten, dass die Arbeiter dachten, diese seien beschädigt. Einer nach dem anderen setzten die Männer ihre Masken ab, die ihre Gesichter schützten. „Die Brillengläser waren so beschlagen, dass wir nichts sehen konnten. Wir mussten die Arbeit rechtzeitig abschließen, sonst hätten sie uns nicht bezahlt“, erinnert sich Matsushita, 53 Jahre. „Ein Kollege kam auf mich zu und sagte: ‚Wir sind in einem Kernreaktor.‘“

Drei Jahre nach diesem Besuch der Anlage in Fukushima warnt ein gelbliches Plakat mit japanischen Schriftzeichen die Obdachlosen des Shinjuku-Parks in Tokio, nicht in die Atomkraftwerke zu gehen. „Nimm den Job nicht an, er wird dich töten“, kann man lesen. Für viele von ihnen kommt dieser Rat zu spät. Die Rekrutierung von Obdachlosen1, Kleinkriminellen, Einwanderern und Armen2 für die riskantesten Arbeiten in den japanischen Atomkraftwerken ist seit mehr als drei Jahrzehnten Routine. Und das ist es auch heute noch. Laut einer Studie von Fujita Yukō, Professor für Physik an der angesehenen japanischen Keiō-Universität, sind in dieser Zeit ca. 700 bis 1.000 Obdachlose [jap.: Kontraktarbeiter] gestorben sowie Tausende an Krebs erkrankt.

 

STRIKTE GEHEIMHALTUNG

Die AKW-Sklaven sind eines der am besten gehüteten Geheimnisse in Japan. Nur wenigen Menschen ist diese Praxis bekannt, in welche einige der größten Unternehmen des Landes sowie die gefürchtete Yakuza-Mafia verwickelt sind. Letztere kümmert sich um die Suche, Auswahl und die Einstellung der Obdachlosen für die Elektrizitätswerke. „Die Mafiosi fungieren als Zwischenhändler. Die Unternehmen zahlen 30.000 ¥ (€ 215) pro Arbeitstag, aber der Auftragnehmer erhält nur 20.000 (€ 142). Die Yakuza behält die Differenz“, erklärt Higuchi Kenji, ein japanischer Journalist, der bereits seit 30 Jahren mit Fotografien die Not der Obdachlosen [jap.: Kontraktarbeiter] in Japan erforscht und dokumentiert.

Higuchi und Professor Fujita suchen jede Woche3 die Orte auf, an denen sich die Obdachlosen [jap.: Kontraktarbeiter] herumtreiben, um sie vor den Risiken zu warnen und sie zu überzeugen, ihre Fälle vor Gericht zu bringen. Higuchi mit seiner Kamera – von ihm sind die Fotografien in diesem Artikel – und Fujita mit der Erforschung der Folgen radioaktiver Strahlung haben die japanische Regierung, die multinationalen Energiekonzerne und die Rekrutierungsnetzwerke herausgefordert. Sie versuchen damit, einen Missbrauch zu stoppen, der still und leise in den 70ern begann und mittlerweile die Kernkraftwerke vollständig abhängig von der Anstellung Bedürftiger gemacht hat, um ihren Betrieb zu gewährleisten. „Japan ist der Ort der Moderne4 und der aufgehenden Sonne, aber die Welt muss wissen, dass es für diese Leute auch die Hölle ist“, sagt Higuchi.

Japan hat eine der spektakulärsten Transformationen des 20. Jahrhunderts erlebt, von einem Land in Schutt und Asche nach dem Zweiten Weltkrieg hin zur technologisch fortschrittlichsten Gesellschaft der Welt. Dieser Umbruch hat eine Stromnachfrage mit sich gebracht, welche Japan zu einer der am meisten auf Kernenergie angewiesenen Nationen der Welt machte.

Mehr als 70.000 Menschen arbeiten ständig in den auf das ganze Land verteilten 175 Anlagen und 52 Reaktoren. Obwohl die Kraftwerke für die technischen Aufgaben ihre eigenen Angestellten haben, besteht mehr als 80%6 der Belegschaft aus ungelernten Arbeitern, die für einen befristeten Zeitraum aus den am wenigsten privilegierten Schichten der Gesellschaft rekrutiert werden. Den Obdachlosen [jap.: Kontraktarbeitern] sind die gefährlichsten Aufgaben vorbehalten, von der Reinigung der Reaktoren über die Dekontaminierung undicht gewordener Stellen bis hin zu Reparaturarbeiten an Stellen, an welche sich ein Ingenieur nie heranwagen würde.

Shimahashi Nobuyuki wurde für einige dieser Aufgaben für etwa acht Jahre vor seinem Tod im Jahr 1994 eingesetzt. Der junge Mann kam aus einer armen Familie in Ōsaka7, hatte die Oberschule abgeschlossen und war auf der Straße, als ihm eine Stelle am AKW Hamaoka in Shizuoka, dem zweitgrößten AKW des Landes, angeboten wurde. „Ich war jahrelang blind, ohne zu wissen, wo mein Sohn arbeitete. Jetzt weiß ich, dass sein Tod ein Mord war“, klagt Michiko, seine Mutter.

Die Shimahashis sind die erste Familie, die vor Gericht einen langen Prozess gewinnen konnte, in welchem das Kraftwerk für den Blut- und Knochenkrebs verantwortlich gemacht wird, der Nobuyuki aufzehrte, ihn für zwei Jahre bettlägerig machte und sein Leben in unerträglichen Schmerzen beendete. Er starb im Alter von 29 Jahren.

Die Enthüllung der ersten Missbrauchsfälle in der Atomindustrie hat das Anwerben von Armen nicht gestoppt. Immer wieder durchstreifen Männer, von denen niemand weiß, wen sie eigentlich repräsentieren, die Parks in Tokio, Yokohama und anderen Städten mit Jobangeboten. Die Obdachlosen werden getäuscht, indem die Risiken, die sie damit eingehen, verschleiert werden. Die AKW benötigen jährlich mindestens 5.000 Zeitarbeiter und Professor Fujita glaubt, dass mindestens die Hälfte von ihnen Obdachlose [jap.: Kontraktarbeiter] sind.

Bis vor kurzem waren Obdachlose noch eine Seltenheit auf japanischen Straßen. Heute ist es schwierig, nicht auf sie zu treffen; die AKW setzen auf Arbeitskräfte im Überfluss. Japan befindet sich seit 12 Jahren in einer Rezession, die tausende Erwerbstätige auf die Straße setzte und die sein Wirtschaftswundermodell, welches das Land überhaupt erst zu den drei reichsten der Welt in Bezug auf pro-Kopf-Einkommen gemacht hatte, in Frage stellte. Viele Arbeitslose können die Demütigung, für ihre Familien nicht sorgen zu können, nicht ertragen, und werden Teil des Heeres von 30.000 Menschen, welche sich Jahr für Jahr das Leben nehmen. Andere werden obdachlos, streifen durch die Parks und verlieren den Kontakt zu ihrem sozialen Umfeld, welches sie aufgegeben hat.

 

DIE AKW-Nomaden

Die Bettler [jap.: Arbeiter], die sich bereiterklären in den AKW zu arbeiten, werden zu dem, was als Genpatsu Gypsies (AKW-Nomaden) bekannt ist8. Der Name nimmt Bezug auf das nomadische Leben, das sie – auf der Suche nach Arbeit – von Kraftwerk zu Kraftwerk führt, bis sie krank werden und, in den schlimmsten Fällen, vernachlässigt sterben. „Die Anstellung von Armen ist nur durch das stillschweigende Einverständnis der Regierung möglich“, empört sich Higuchi Kenji, der diverse Preise9 für Menschenrechtsschutz erhielt.

Die japanischen Behörden haben die Menge an Radioaktivität, welcher eine Person pro Jahr ausgesetzt sein darf, auf 50 mSv (Millisievert) festgesetzt, was vielmehr ist, als die 100 mSv in fünf Jahren, die in den meisten anderen Ländern festgelegt sind. Theoretisch beschäftigen die AKW-Betreiberfirmen die Obdachlosen bis sie ihre maximale Strahlendosis erhalten haben und entlassen sie dann „zum Wohle ihrer Gesundheit“. Damit setzen sie sie erneut auf die Straße. Die Realität zeigt aber, dass dieselben Arbeiter Tage oder Monate später unter falschem Namen wieder eingestellt werden. Nur auf diese Weise lässt sich erklären, warum viele Eingestellte über ein Jahrzehnt hinweg Strahlendosen ausgesetzt waren, welche die gesetzlich erlaubten Werte hundertfach übersteigen.

Nagao Mitsuaki, 78 Jahre, leidet an multiplem Knochenmarktumor. Er hält ein Foto von sich hoch, als er bei Tepcos AKW Fukushima Daiichi gearbeitet hat. / Foto: Higuchi Kenji.

Nagao Mitsuaki hat immer noch ein Bild von einem Einsatz an seinem Arbeitsplatz. Darauf sieht man ihn in einem Schutzanzug,den er nicht immer getragen hat, nur wenige Minuten bevor er eine Dekontaminierungsarbeit im Kraftwerk von Tahastuse [? Jap.: Tepco, AKW Fukushima Daiichi] aufnahm, in dem er fünf Jahre lang gearbeitet hatte, bevor er erkrankte. Jetzt, mit 78 Jahren und nachdem er die letzten 5 Jahre damit verbracht hat, seinen Knochenkrebs – die häufigste Krankheit unter den Genpatsu Gypsies – zu behandeln, hat sich Nagao entschlossen, die AKW-Betreiberfirmen und die japanische Regierung zu verklagen. Dabei ist es interessant, dass er gerade nicht zu den eingestellten Obdachlosen gehörte, sondern diese als Vorarbeiter anleitete. „Sie glaubten, dass bei einer Arbeit, in welche große Firmen involviert sind, nichts Schlimmes passieren könne. Aber diese Firmen nutzten ihren guten Ruf, um die Leute zu täuschen und sie für sehr gefährliche Arbeiten zu rekrutieren, bei welchen sie vergiftet werden“, beklagt sich Nagao 10, dessen Körper zur Hälfte gelähmt ist, weil er höheren Strahlendosen als zulässig ausgesetzt war.

In den vergangenen 30 Jahren hat Higuchi Kenji Dutzende Opfer der AKW interviewt, ihre Krankheiten dokumentiert und gesehen, wie viele von ihnen vor ihrem Tod ans Bett gefesselt waren und sehr gelitten haben. Vielleicht hat der zum Ermittler gewordene Fotograf gerade deshalb, weil er das Leiden der Unterprivilegierten aus der Nähe gesehen hat, kein Problem damit, die multinationalen Konzerne, die die Bettler indirekt einstellen, zu nennen. Er sitzt im Arbeitszimmer in seinem Haus in Tokio, zieht ein Blatt Papier heraus und beginnt zu notieren: „Panasonic, Hitachi, Tōshiba…“.


HIROSHIMA UND NAGASAKI  

Die Firmen schließen über andere Unternehmen [jap.: Unternehmer] Subkontrakte mit den Obdachlosen. Dies geschieht innerhalb eines Systems, das sie von jeglicher Verantwortung befreit, die Arbeiter, deren Herkunft oder deren Gesundheit nachzuverfolgen. Der größte Widerspruch dessen, was in Japan geschieht, besteht aber darin, dass solche Missbräuche sich fast ohne Proteste in einer Gesellschaft ereignen, der die Folgen der falschen Nutzung der Kernenergie weltweit wohl am besten bekannt sind. Am 6. August 1945 warf die USA auf die bis dato unbekannte Stadt Hiroshima eine Atombombe ab, welche auf der Stelle 50.000 Menschen tötete. Weitere 150.000 starben in den folgenden fünf Jahren auf Grund der Strahlung. Die Geschichte wiederholte sich einige Tage später mit dem Abwurf einer zweiten Bombe auf Nagasaki.

Eine Studie zeigt auf der Grundlage von Daten über die Auswirkungen der Kernexplosionen und über die Strahlungsmengen, denen die AKW-Obdachlosen [jap.: AKW-Kontraktarbeiter] ausgesetzt sind, dass bis zu 17 von 10.000 Arbeitern, die von der Straße aus in japanische AKW angeheuert werden, mit „100%-iger“ Wahrscheinlichkeit an Krebs sterben werden. Eine weitaus größere Zahl an Menschen wird „sehr wahrscheinlich“ das gleiche Schicksal erleiden und weitere Hunderte werden an Krebs erkranken. Wenn man bedenkt, dass seit den 70er Jahren mehr als 300.000 Zeitarbeiter in den japanischen AKW rekrutiert wurden, kommen Professor Fujita und Higuchi nicht umhin, sich immer wieder die gleichen Fragen zu stellen: Wie viele Opfer sind wohl in dieser Zeit gestorben? Wie viele haben ohne Protest einen qualvollen Todeskampf geführt? Wie lange wird es noch gebilligt, dass die Energie, die von der wohlhabenden japanischen Gesellschaft verbraucht wird, vom Opfer der Armen abhängt?

Die Regierung und die Unternehmen rechtfertigen sich mit der Beteuerung, dass niemand gezwungen würde, in den AKW zu arbeiten und dass jeder Mitarbeiter gehen könne, wann er möchte. Ein Sprecher des japanischen Arbeitsministeriums sagte: „Es gibt Jobs, die Menschen einer Strahlung aussetzen, die aber erledigt werden müssen, um die Stromversorgung zu gewährleisten.“

Die Obdachlosen sind zweifelsohne bereit, diese Stellen zu besetzen. Ein Arbeitstag in der Reinigung der Kernreaktoren oder der Dekontaminierung eines Gebietes, auf welchem es ein Leck gab, wird doppelt so gut bezahlt wie ein Einsatz auf dem Bau, wo es aber ohnehin kaum Stellen gibt. Die meisten träumen davon, sich dank der neuen Arbeit wieder in die Gesellschaft einzugliedern und sogar zu ihren Familien zurückzukehren. Einmal im AKW angekommen merken sie aber schnell, dass es ihr Schicksal ist, dass man sich ihrer innerhalb weniger Tage entledigt11.

Die Aussagen mehrerer Opfer bestätigen, dass es üblich ist, Risiko-Bereiche nur mit Strahlungsmessgeräten zu betreten, doch diese oftmals von den Vorarbeitern manipuliert werden. Es ist zum Teil nicht unüblich, dass die Obdachlosen aus Angst, von jemand anderem ersetzt zu werden, weil sie bereits eine erhöhte Strahlendosis erhalten haben, selbst ihre Lage verheimlichen. „Wenn die Strahlung hoch ist, macht niemand den Mund auf, aus Angst, nicht mehr arbeiten zu können“, erklärt Herr Saitō, einer der Obdachlosen aus dem Tokioter Ueno-Park, der zugibt, „diverse Jobs in Kernkraftwerken ausgeführt zu haben“.

Das Innere eines Reaktors. Eine Gruppe von Kontraktarbeitern arbeitet im Inneren eines japanischen Reaktors. Einige unter ihnen sind AKW-Nomaden. Sie haben keinerlei technisches Wissen erhalten und nehmen das 17.000-fache der international anerkannten Höchstgrenze für Strahlung auf. / Foto: Higuchi Kenji

Die mangelnde Ausbildung und Vorbereitung für die Arbeit in AKW führt immer wieder zu Unfällen, die hätten vermieden werden können, wären die Angestellten angemessen eingewiesen worden. „Es scheint niemanden zu interessieren. Sie werden ausgewählt, weil niemand nach ihnen fragen wird, wenn sie eines Tages nicht mehr von der Arbeit nach Hause kommen“, sagt Higuchi. Wenn ein Zeitarbeiter die medizinische Einrichtung des AKW oder nahegelegene Krankenhäuser aufsucht, verschleiern die Ärzte systematisch die Strahlungsmenge, die der Patient erhalten hat, drücken ihm ein Zertifikat „geeignet“ in die Hand und schicken zurück zur Arbeit. Die hoffnungslosesten Obdachlosen arbeiten tagsüber in der einen und nachts in einer anderen Atomanlange.

In den vergangenen zwei Jahren haben einige Patienten vor allem dank Fujita und Higuchi begonnen, Erklärungen zu verlangen. Protest ist für die meisten trotzdem keine Option.12 Murai Kunio und Umeda Ryūsuke, zwei nukleare Sklaven, die nach mehreren Anstellungen schwer erkrankten, sahen sich gezwungen, ihre Anklagen zurückzuziehen, nachdem eine Gruppe von Yakuza, die die Subkontraktunternehmen betreibt, ihnen Morddrohungen geschickt haben soll. 

 

TÄGLICHE BLUTTRANSFUSIONEN 

Ōuchi Hisashi war einer der drei Arbeiter, die sich in der Brennstoff-Entsorgungsanlage im AKW Tōkaimura befanden, als ein radioaktives Leck entstand, das im Jahr 1999 Japan alarmierte. Der Arbeiter erhielt eine 17.000-mal höhere Strahlendosis als erlaubt. Er starb nach 83 Tagen Krankenhausaufenthalt mit täglichen Bluttransfusionen und Hauttransplantationen.

Das Arbeitsministerium organisierte eine massive Kontrolle aller Anlagen des Landes, aber die Verantwortlichen der Zentralen wurden 24 Stunden im Voraus informiert, sodass sie viele der Unregelmäßigkeiten verbergen konnten. Und trotzdem bestanden nur zwei der 17 AKW die Prüfung. Bei den übrigen wurden jeweils bis zu 25 Verstöße aufgedeckt, von der fehlenden Ausbildung der Arbeitskräfte, über die mangelnde Kontrolle der Radioaktivität, welcher die Mitarbeiter ausgesetzt sind, bis hin zur Nichterfüllung der gesetzlichen Mindestanforderungen für Vorsorgeuntersuchungen. Auch die Rekrutierung von Obdachlosen ging danach weiter.

Das AKW in Fukushima, in welches Matsushita und ein weiteres Dutzend Bettler [jap.: Obdachlose] gebracht wurden, ist wiederholt in die Kritik geraten wegen der systematischen Art und Weise, in welcher Arbeiter von der Straße weg eingestellt werden. Fujita Yukō, Wissenschaftler von der Keiō-Universität, bestätigt, dass die Verantwortlichen dieses AKW im Jahr 1999 tausend Menschen rekrutierten, um den Sarkophag, der einen der Reaktoren bedeckte, zu ersetzen. Drei Jahre nach seinen eigenen Erlebnissen in Fukushima13 gibt Matsushita zu, „zwei oder drei weitere Jobs“ akzeptiert zu haben. Im Gegenzug verlor er das Einzige, was er noch hatte: seine Gesundheit. Seit ein paar Monaten fallen ihm die Haare aus, dann kamen die Übelkeit und später die Diagnose einer degenerativen Erkrankung. „Sie meinen, mich würde ein langsamer Tod erwarten“, sagt er.

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Hier endet die japanische Übersetzung. In der spanischen Zeitung wird noch ein Vergleich zu AKW in Spanien gezogen.  


 

IN SPANIEN WERDEN ROBOTER EINGESETZT

Von PACO REGO

Elías Fernández hat gerade von einem Journalisten erfahren, dass japanische Bettler als billige Arbeitskräfte für die radioaktive Reinigung der nationalen AKW missbraucht werden. „Wie schrecklich!“, ist das erste, was aus seinem Mund kommt. Der Sicherheitsexperte des AKW Garoña in Burgos kann genau so wenig verstehen, wie die Atomunternehmen trotz der verfügbaren Technologien und den ausgezeichneten radiologischen Kontrollen auf der ganzen Welt „Aktionen billigen, die je nach Fall ein erhöhtes Risiko mit sich bringen, sowohl für die Gesundheit der Arbeiter, als auch für die Integrität des Kraftwerks.“

In den acht AKW, die aktuell in Spanien laufen, muss das Personal, das für die Reinigung von kontaminierten oder potentiell von Radioaktivität bedrohten Flächen verantwortlich ist, zunächst eine obligatorische Schulung durchlaufen, die von den Experten der Anlage selbst durchgeführt wird. Dies wird vom Gesetz vorgeschrieben. Außerdem, wie Santiago San Antonio, Generaldirektor des spanischen „Foro Nuclear“, ausführt, „werden sämtliche Reinigungsarbeiten unter der Aufsicht des Strahlenschutz-Dienstes der Anlage ausgeführt.“

Es ist ebendieses Team, das sich um die Sicherheit der Angestellten kümmert, sodass kein Arbeiter während der radioaktiven Dekontaminierung in Gefahr gerät. So erfordern es die internationalen Normen für Strahlenschutz, die von der gesamten zivilen Atomindustrie anerkannt sind. Auch aus diesem Grund ist die Verwunderung der spanischen Experten umso größer, zumal es üblich ist, für die riskantesten Reinigungsaufgaben – Reaktorhülle eines AKW und umliegende Gebiete – Roboter einzusetzen, die von qualifizierten Fachkräften und vielversprechenden Anwärtern ferngesteuert werden. „Hier gibt es weder Wischmobs, noch Eimer mit Spülmittel oder Lappen“, erklärt Elías Fernández. „Absolut niemand kommt mit radioaktivem Material direkt in Berührung.“

Wenn die Fortbildung beendet ist, erhalten die Reinigungsteams der AKW – unter Vertrag bei spezialisierten Firmen oder beim Kraftwerksbetreiber selbst – einen kompletten Antikontaminierungs-Anzug, eine Art zweite Haut aus wasserdichtem Material, die den Arbeiter von der atomaren Umgebung der Anlage isoliert. Drei Arten von Bekleidung bilden die Aussteuer der nuklearen Reinigungskräfte. Die erste besteht aus einem Pullover, Handschuhen und einer Kopfbedeckung, und wird für den sog. kontrollierten Bereich benutzt, welcher nicht radioaktiv kontaminiert ist. Die Vorsichtsmaßnahmen werden noch strenger, wenn man Bereiche der Anlage betritt, in denen ein hohes Radioaktivitäts-Risiko herrscht. In einem solchen Fall verwenden die Reinigungskräfte eine Reihe zusätzlicher Kleidungsstücke, ähnlich wie die eben genannten, deren Funktion es ist, die Abdichtung des Körpers zu erhöhen. Je mehr man sich dem Zentrum des AKW nähert, desto größer ist das Risiko der Kontamination. Für diese kritischen Bereiche, verwendet man ein drittes Modell, meist Einwegkleidung, mit einer Maske und zusätzlichen Atemschutzgeräten. 


 

1 Im spanischen Original wird hier von „mendigos“, „indigentes“, „los sin techo“ oder „vagabundos“ gesprochen, was so viel wie „Bettler, Obdachlose, Stadtstreicher“ bedeuten kann. In diesem Text wird für all diese Begriffe der Oberbegriff „Obdachlose“ verwendet. In der japanischen Übersetzung wird allerdings in vielen Fällen von Kontraktarbeitern, 下請け労働者, gesprochen, was auf die Redaktion durch Herrn Higuchi persönlich zurückzuführen sein dürfte und seine Berichterstattung wahrscheinlich konkreter bzw. korrekter wiedergibt als der spanische Text. Dies geht auf das System der Subkontraktunternehmen in der japanischen Wirtschaft zurück, bei welchem Großunternehmen für bestimmte Arbeiten kleinere und mittelständische Unternehmen beauftragen. In den Fällen, in denen „Obdachlose“ in der japanischen Version als „Kontraktarbeiter“ behandelt werden, wird dies direkt im Text vermerkt.

2 Im Japanischen heißt es: „Kontraktarbeiter, Obdachlose, jugendliche Delinquenten, Stadtstreicher und Arme“.

3 Im Japanischen heißt es „immer wieder“ statt „jede Woche“

4 Im Japanischen heißt es: „der Ort der fortgeschrittenen Moderne“

5 Im Japanischen steht hier statt 17 die Zahl 9.

6 Im Japanischen: 90%.

7 Im Japanischen steht Yokosuka statt Ōsaka.

8 Im Japanischen: „sind als Genpatsu Gypsie bekannt geworden.“

9 Im Japanischen die Konkretisierung: „der diverse internationale Preise für Menschenrechtsschutz erhielt.“

10 Im Japanischen: „…kritisiert Nagao scharf“

11 Im Japanischen 使い捨てられる, was so viel bedeutet wie „benutzen und danach wegwerfen; verschwenderisch verwenden“.

12 Im Japanischen fehlerhaft übersetzt.

13 Im Japanischen: „AKW Fukushima“

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