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Die Dreifachkatastrophe in Japan. Geschehnisse, Folgen, Gedanken

STEFFI RICHTER

erschienen in: Steffi Richter: /Dreifache Katastrophe in Japan/. In: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis. Heft 2/2011, S. 44-51


Am 11. März 2011, 14.46 Uhr Jap. Zeit (6.46 MEZ) ereignete sich etwa 80 km vor der Pazifikküste der Tôhoku-Region in Japan in 10 km Tiefe ein Erdbeben, dessen Stärke zunächst mit einer Magnitude von 7.9, später 8.8 und letztlich dann mit 9.0 angegeben wurde. Das ist die vielfache Stärke der 7.3-Hanshin-Awaji-Erdbebenkatastrophe (des sog. “Kôbe-Erdeben“) von 1995. Diese Wucht soll die Hauptinsel Honshû um mehr als zwei Meter gen Osten sowie auch die Erdachse um 16 cm verschoben haben.

Seither werden ständig Nachbeben in dieser wie auch in der Kantô-Region (Tokio und die sechs umliegenden Präfekturen) verzeichnet, die zuweilen selbst wieder bis zu 7.0 stark waren.

Das Beben verursachte mit den Tsunami die zweite Katastrophe. Zwar wurde vor diesen Flutwellen sofort gewarnt, doch haben sie aufgrund ihrer Höhen von stellenweise über 10m (Kyodo News berichtet von bis zu 38 Metern1) zu verheerenden Zerstörungen geführt haben.

Staatliche Institutionen wie die National Policy Agency (NPA) oder das Bildungsministerium MEXT aktualisieren seither ständig die zu beklagenden Opfer, die am 25.4.2011 folgendermaßen beziffert werden: 14.358 Tote, 11.889 Vermisste und 5.314 Verwundete. Der materielle Schaden beläuft sich u.a. auf über 90.000 völlig oder teilweise zerstörte Gebäude (darunter fast 7.200 Schulen, 1940 soziale und Kultureinrichtungen, 18 Forschungseinrichtungen), über 400 Kulturgüter (darunter vier Nationalschätze, 130 wichtige nationale Kulturgüter), über 3.700 zerstörte Straßen oder 71 Brücken. Mit Matsushima ist eine der sogenannten drei schönsten Landschaften Japans unweit von Sendai weitgehend zerstört. Noch immer sind in 2.518 Notunterkünften über 130.904 Menschen untergebracht, die fast alles verloren haben.

Beide Katastrophen gehören zu den schlimmsten der Geschichte dieses Landes und der pazifischen Region, und sie sind wohl auch am detailliertesten und massenhaftesten in Bildern festgehaltenen und (wieder und wieder) in die Welt hinaus gesandten worden. Das macht uns beinahe zu hilflosen Voyeuren. Dazu Tawada Yôko, die Berlin lebt: „Foto- und Videoaufnahmen aus Katastrophengebieten bringen uns in eine unmittelbare Nähe zum Opfer. Gleichzeitig bleibt eine unüberwindbare Distanz zum Geschehen. Die Betrachter können dem Opfer nicht einmal ein Glas Wasser geben. Dadurch können die Bilder bei den Menschen, die eigentlich helfen wollen, das Gefühl der Hilflosigkeit verstärken. Was kann man machen, um sich der lärmenden Wirkung der Bilder zu entziehen?“ (Christ&Welt 12/2011, 24. März 2011).

Noch am gleichen Tag nahm eine dritte Katastrophe ihren Lauf. Zwar erklärte der japanische Premierminister Kan Naoto am 11.3. gegen 17 Uhr, die Lage in den Atomkraftwerken sei normal, die Anlagen seien automatisch heruntergefahren worden. Doch schon kurze Zeit später wurden schwere Störfälle vor allem in den Reaktoren des AKW Fukushima 1 gemeldet. Die schwerste Atomkatastrophe in Japan seit Hiroshima und Nagasaki ist längst in den Mittelpunkt der Medienberichterstattung gerückt und absorbiert enorme Kräfte und Mittel, die so dringend für die Hilfe für die eingangs genannten Opfer nötig wären. Diese Katastrophe wird für weitere Opfer sorgen – keiner weiß, wie viele. Daher ist auch weniger von einer „Naturkatastrophe“ (tensai) als vielmehr von einer menschengemachten, einer sozialen Katastrophe (jinsai) zu sprechen; präziser noch – von einer Katastrophe, die der unheiligen Allianz dreier Faktoren geschuldet ist: der Profitgier solcher zur Unternehmen wie Tokyo Electrical Power Company (Tepco, einem der weltweit größten Energiekonzerne), einer konfusen politischen Führung und einer mit diesen beiden Akteuren verfilzten Bürokratie in Gestalt solcher Behörden wie der japanischen Atomsicherheitsagentur (Nuclear and Industrial Safety Agency NISA; Genshiryoku anzen hoan-in). „Die Regierung müsse führen, Tepco handeln, die Nisa kontrollieren“, kritisiert Kôno Tarô, der stellvertretende Generalsekretär der Liberaldemokratischen Partei (LDP). Zwar ist eben das jene Partei, die Japan in ihrer fast 50-jährigen Alleinherrschaft dieses System mit geschaffen und getragen hat (Zeit online vom 31. März 2011), doch gibt es auch in ihr ein Spektrum an Haltungen zur Atomkraft, das von lobbygestützter Befürwortung bis zur Ablehnung etwa der Wiederaufbereitungsanlage in Rokkasho-mura im Norden der Hauptinsel Honshû reicht."

Politik- und sozialwissenschaftlich geschulte Japanologen merken hier vermutlich auf. Die eben geschilderte Trinität kann als Ausdruck dessen gesehen werden, was allgemein in der Nachkriegsgeschichte Japans als „Eisernes Dreieck“ bezeichnet wird: die schier unlösbare Verflochtenheit von großen Unternehmen, Politik und Staat/Bürokratie als Ursache auch für eine ganze Reihe von Korruptionsskandalen. Vielleicht haben diese in Japan eine spezifische Ausprägung, sind aber nichts spezifisch Japanisches. Doch sind die Folgen dieses Geflechts jetzt besonders dramatisch und tiefgreifend. Es kann von einer Zäsur nicht nur für Japan, sondern für die ganze Welt gesprochen werden, was – in Anlehnung an den 11.September 2001 – sprachlich bereits seinen Ausdruck in der Formel „3/11“ gefunden hat. Im Folgenden möchte ich aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive einige Gedanken formulieren, die mich – angesichts der medialen Repräsentation der Dreifachkatastrophe sowohl in unserem eigenen als auch im japanischen Kontext – bewegen.

I

Wirft man einen Blick auf und in verschiedene Printmedien, die „Japan“ in den letzten Wochen Schwerpunkte widmeten, so wird schnell klar, dass Schwarz-Weiß-Malereien zu kurz greifen. Einerseits ruft der Stern (Nr. 13 vom 24.3.2011) bereits auf seiner Titelseite wohl alle Klischees und Stereotypen in Sachen „Japan-Bilder“ oder „Japan/er-Theorien“ (nihon/jin-ron) auf, die zumindest in den ersten Wochen nach dem 11.3. immer wieder bemüht wurden – und die, andererseits, von Japanspezialisten in Die Zeit, Frankfurter Rundschau“ oder FAZ zumindest in Frage gestellt wurden. Der Künstler Christoph Niemann entwarf ein Cover für den New Yorker (28. März 2011) „Dark Spring“, auf dem die symbolträchtige Kirschblüte in einer Weise stilisiert wurde, die einen schmunzeln und zugleich das Blut in den Adern gefrieren lässt: die drei rosafarbenen Blätter jeder der insgesamt 11 Blüten (auf schwarzem Grund) erinnern zugleich an Radioaktivitätszeichen.

Das Stern-Cover dagegen ist eine Collage aus dem Kopf einer Geisha, Hokusais berühmter „Welle“, einem Samurai in prächtigem Gewand (und gezücktem Kurzschwert) und einem Rettungsteam der Tokioter Feuerwehr – das Ganze untertitelt mit dem Text „Stolz, diszipliniert, leidensfähig, selbstlos. Das unglaubliche Volk. Wie Kultur und Katastrophen die Mentalität der Japaner prägen“. Geisha und Hokusai stehen wohl für Schönheit und Harmonie mit der Natur; und wenn letztere sich wild und grausam gebärdet, nehmen es „die Japaner“ eben hin: shikata ga nai, da kann man nichts machen! Was ist daran spezifisch „japanisch“? Der japanische Philosoph Mishima Kenichi hat in der FR online vom 21. März gefragt, ob die vor ein paar Jahren vom Hochwasser betroffenen Bürger Sachsens nicht ebenso diszipliniert und gegenseitig hilfsbereit gewesen seien. Damals gelegentlich auch bewunderte Eigenschaften wie „teutonische Organisation“ oder „germanisches Durchhaltevermögen“ habe er für ebenso töricht gehalten, wie allgemein die „Langlebigkeit der aus dem schrecklichen 19. Jahrhundert stammenden Selbst- und Fremdzuschreibungen“. Was bezwecken die ethnischen Zuschreibungen? Auch in Japan stößt die Leidensfähigkeit an Grenzen, wie das Beispiel eines Gemüsebauers aus der Präfektur Fukushima zeigt: Er hat sich am 24.3. das Leben genommen, nachdem die Regierung eine Einschränkung der Belieferung von vermutlich verstrahlten Produkten etwa an Schulen verordnet hatte, was den 64-Jährigen existenziell traf (Asahi shinbun am 29.3.). Beispiel zwei handelt von jenen Arbeitern, die – zumeist am Ende der AKW-Hierarchien stehend – in die Fukushima 1-Atomhölle geschickt werden. Alsbald tauchte in verschiedenen Medien das Kamikaze-Gleichnis auf, auch der Stern bezieht sich auf diese angeblichen Helden: unter dem Titel „Ein Volk mit Haltung“ wird eine Geschichte erzählt, die von den „göttlichen Winden“ (kamikaze bzw. shinpû) im 13. Jahrhundert über die Kamikaze-Flieger im 2. Weltkrieg bis zu den Feuerwehr-Leuten als „Rettern der Nation“ reicht (44-54). Gegen diese Imaginationen regt sich zwar Unmut unter manchem Japankenner, doch treffen sie dann einen realen Kern, wenn der in vielen Erinnerungen, pop-kulturellen und geschichtsrevisionistischen Erzählungen reproduzierte Kamikaze-Mythos entzaubert und die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft zur Kenntnis genommen werden. Diese Männer sind in den allermeisten Fällen keine Freiwilligen gewesen, sondern in einer vom Kriegsverlauf her gesehen bereits aussichtslosen Situation sinnlos in den Tod geschickt worden. Strukturell (!) gibt es manche Ähnlichkeit zu den AKW-Arbeitern: „Wenn ich den Einsatz ablehne, würde ich in eine schlechte Lage geraten“; ganz abgesehen von den Drohungen seitens des Wirtschafts- und Industrieministers Kaieda Banri gegenüber Feuerwehrleuten: wer den Anweisungen nicht Folge leiste, würde bestraft.2

II

Ein solcher Vergleich stößt jedoch an Grenzen – ein havariertes AKW kann nicht einfach aufgegeben, Spezialisten müssen versuchen, der Lage Herr zu werden, auch unter Einsatz ihres Lebens. Doch außer den Tepco-Spezialisten selbst oder den Feuerwehrleuten sind es eben auch Männer, die seit Jahrzehnten über Sub- oder gar Sub-Subunternehmen von Tepco und anderen AKW-Betreibern angeheuert und ohne genügend Ausbildung und Wissen Strahlungen ausgesetzt werden, die gesundheitsgefährdend, langfristig gar tödlich sind. „Wegwerf-Arbeiter“ (tsukai-sute rôdôsha) oder auch „AKW-Gipsy“ werden sie genannt. Diese diskriminierende Bezeichnung wurde von Horie Kunio aufgegriffen, der bereits 1979 in seiner gleichnamigen Publikation Genpatsu jipushî über Saison-Arbeiter berichtete, die für Reinigungs- u.a. zyklisch anfallende Wartungsarbeiten in Kernreaktoren angeheuert werden. Dass diese Praxis weltweit, also auch hierzulande üblich ist, vermittelt das Interview mit Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz: „[F]ür strahlenmäßig besonders belastende Einsätze, zum Beispiel Reinigungsarbeiten und solche Dinge, [holt] man sich da Arbeiter von Fremdfirmen, um die eigene Statistik nicht zu versauen und um die Leute locker wieder loswerden zu können, wenn sie genug Strahlung abgekriegt haben. Das ist ein weltweit praktiziertes Verfahren. Wenn man das nicht machen würde, dann müsste man die eigene Mannschaft, die relativ hoch bezahlte eigene Mannschaft für diese Einsätze verwenden, und die kämen dann relativ bald an die Strahlenschutzgrenzwerte und wären nicht mehr richtig zu verwenden. Also das ist eine sehr unerfreuliche und wenig diskutierte Geschichte.“ (DRadio Kultur vom 23.3.2011).

Auch in Tschernobyl waren 1986 vermutlich ca. 200.000 so genannte Liquidatoren“ eingesetzt worden, um die Radioaktivität einzudämmen (zu „liquidieren“) – die meisten von ihnen Soldaten und zwangsverpflichtete Arbeiter aus der ganzen UdSSR, viele aber auch freiwillig. "Wir hatten Angst, aber in erster Linie sind wir dorthin gegangen, um unsere Kinder und unser Land vor dieser Katastrophe zu schützen. Das wird den japanischen Spezialisten jetzt auch nicht anders gehen." (NTV online vom 18. März 2011).

Das Thema „AKW-Gipsy“, das erst im Zusammenhang mit dem Fukushima-Ereignis sichtbar geworden ist, steht in enger Verbindung mit der Armuts-, Obdachlosen- und Tagelöhner-Problematik im Japan der Nachkriegszeit. Die Energie- und Atomindustrie hat ähnlich wie die Bauindustrie Japans Aufstieg zur zweitstärksten kapitalistischen Wirtschaftsmacht seit den 1960er Jahren mitgetragen; staatliche Mittel wurden schon in der Mitte der 1950er bewilligt, das erste AKW ging 1966 ans Netz. Diejenigen, die mit ihrer Hände Arbeit zum „japanischen Wirtschaftswunder“ beigetragen haben, verblieben im Schatten dieser Entwicklung: sozial schwache und politisch kaum organisierte Schichten. Erst im Zusammenhang mit den Krisen seit den 1990ern, vor allem aber mit den zunehmenden prekären Verhältnissen besonders unter jüngeren Generationen 2000ff wird Armut (wieder) zu einem Thema. Die noch nicht absehbaren Folgen der Nuklearkatastrophe werden diese Entwicklungen beschleunigen.

Fast anklagend wird bisweilen gefragt, warum es gerade in Japan – mit den Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki! – so wenig Protest gegen die Kernkraftnutzung gibt. Skeptiker und Gegner der so genannten friedlichen Nutzung der Kernkraft haben auch in Japan schon seit geraumer Zeit Studien erstellt und veröffentlicht. Sie sind allerdings in den Mainstream-Medien kaum zu finden. Ähnliches gilt für Berichte, die von Betroffenen – verstrahlten regulären wie auch Leih-Arbeitern – aufgeschrieben wurden.

Das Internet ist für diese Berichte ein wichtiger Ort der Verbreitung geworden. So erzählt im Blog der Obdachlosen- und Arbeitslosen-Bewegung des Tokioter Tagelöhnerviertels Sanya Herr Matsumoto, wie er vor Jahren einen Bekannten, mit dem er Monate zuvor am Bahnhof Tokio-Ueno für die Arbeit in einem AKW angeheuert worden war, kurze Zeit darauf zu Grabe getragen hat – vermutlich verstrahlt. Kawamura Takeshi berichtet im Dezember 2010 im Blog „Japan Alternative News for Justices and New Cultures“ (JanJan-Blog) unter dem Titel „AKW-Gipsy“ über seine eigenen Erfahrungen im AKW Hanaoka, wo er von 2003 bis 2009 gearbeitet hat und sich z.B. hoher Strahlung aussetzen musste, um einen teuren Inspektionsroboter im Kanalschacht eines Reaktorkerns zu fixieren. Watanabe Mikiko, Mitarbeiterin der Nuclear Safety Research Group der Kyôto-Universität, erstellte 2009 eine Grafik3, die den Anteil von festangestellten und zyklisch angeheuerten Arbeitern in japanischen AKW erfasst, die radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren. Danach wächst im Zeitraum von 2000 bis 2007 die Anzahl zyklisch angeheuerten Arbeiter deutlich. Berichtet wird im Netz auch über Arbeiter, die sich gerichtlich gegen ihr Schicksal zur Wehr setzen, so etwa Iwasa Kazuyuki. Er wurde 1971 bei Reparaturarbeiten verstrahlt, erkrankte bald darauf, wurde arbeitsunfähig und versuchte erstmals, gegen den AKW-Betreiber Japan Atomic Power Co. in Tsuruga/Fukui (Nihon genshiryoku) die Anerkennung seiner Krankheit und Entschädigung zu erwirken. 17 Jahre zog der Prozess sich hin, bevor die Klage 1991 vom Obersten Gericht Japans endgültig abgewiesen wurde4

III

Das führt ins Zentrum der politischen und intellektuellen Kultur Japans seit den 1970er Jahren: Protestbewegungen gegen die zerstörerischen, nicht beherrschbaren Techniken zur Gewinnung von Energie. Es gab und gibt sie: Am 31. März meldet u.a. die Zeitung Tôkyô shinbun, dass am Vortag eine Gruppen von ca. 100 Menschen gegen die Atomkraft demonstriert habe. Vom Hibiya-Park aus (traditionell ein Ort politischer Proteste) sei sie vorbei an der Japanischen Atomaufsichtsbehörde (NISA) hin zum Hauptquartier von Tepco gezogen, wo von der Sicherheitspolizei drei Personen festgenommen wurden: wegen Behinderung des Verkehrs, also Verletzung der Straßenverkehrsordnung (!). Die Verhafteten – zugleich die Organisatoren der Demo – seien dem Kern des Zengakuren zuzurechnen – dem 1948 gegründeten, mittlerweile aber in verschiedenen Fraktionen gespaltenen linken Alljapanischen Studentischen Dachverband. Was bedeutet diese Härte der Staatsmacht gegen solche Formen von Protest? Weshalb sind in den großen, landesweiten Zeitungen kaum Beiträge zu lesen, die über den eingangs erwähnten Filz von Bürokratie, Unternehmen, Regierungspolitik aufklären? Weshalb hat sich aus den mächtigen politischen Protestwellen der 1950er und 1960er Jahre (die auch gegen Atombombenversuche gerichtet waren) keine sozial verwurzelte landesweite ökologische Bewegung formieren können, die nun den Ausstieg fordert? „For a Change, Proud to Be Japanese” betitelt Azuma Hiroki seinen Artikel vom 16. März in der New York Times, und Murakami Ryû konstatiert dort einen Tag später: „But for all we’ve lost, hope is in fact one thing we Japanese have regained. The great earthquake and tsunami have robbed us of many lives and resources. But we who were so intoxicated with our own prosperity have once again planted the seed of hope.”

Aber braucht es Hoffnung für „We Japanese“? Aktivisten aus dem Umkreis der 2005 entstandenen Gruppe „Aufstand der Laien“ (Shirôto no ran) riefen zu einer ersten großen Anti-AKW-Demonstration im Tokioter Stadtteil Kôenji auf. Mehr als 15.000 Teilnehmer kamen dort unter dem Motto Genpatsu yamero!!! – „Stoppt die Atomkraft!!!“ – am 10.4. zusammen. Besonders auf Homepages werden Anti-AKW-Demonstrationen und dokumentiert – nicht nur in Japan5, sondern weltweit6.

Die Gruppe Shirôto no ran sollte im Fokus der Aufmerksamkeit bleiben. Sie agiert lokal im schon erwähnten Stadtteil Kôenji, wo Second-Hand-, Recycle- u.a. Läden zugleich als Treffpunkt für vor allem junge Leute dienen, die sich dem kapitalistischen Kreislauf „Arbeit-Konsum-Arbeit“ entziehen und alternative Lebensformen ausprobieren wollen. Zugleich verstehen sie sich als Teil einer globalen Bewegung, z.B. wenn gerade jetzt in einem dieser Läden die „Untergrunduniversität“ (chika daigaku) wieder belebt wird – eine Universität, in der „nichtreguläre Lehrende“ (also akademisches Prekariat) mit nichtregulären Arbeitern zusammenkommen, über die eigene prekäre Lage in Japan diskutieren und sich unter dem Titel Chika no chûtô („Underground Middle East“) mit den Ereignissen in Nordafrika auseinandersetzen. Hirai Gen, Intellektueller und einer der Organisatoren dieser Veranstaltungsreihe, erlebte den 11. März als Leiharbeiter einer Firma in Tokio. Knapp zwei Wochen später notierte er Impressionen in sein Tagebuch, die den glokalen Charakter dieser Akteure eindrucksvoll hervortreten lassen:

ZWEI WELLEN LEBEN 

Ein grandioser Anblick in der „Untergrund-Universität“ (die sich am Ende einer Gasse mit anzüglichen Fûzoku-Geschäften befindet): Aufruhr im Mittleren Osten und ein voluminöses philologisches Magnus Opus neben einer Schüssel Reis mit Rindfleisch für 280 Yen.

Und doch gibt es für diese andauernde, sich von Maghrib nach Mashrik erstreckende Bewegung keinen Namen. Blättert man z.B. im „Sonderheft zu den Arabischen Revolutionen“ der Zeitschrift „Gendai shisô“, so ist die Rede vom „Wunder vom Tahrir-Platz“, von „Neuen Zivil-Revolutionen“, von „Saura“, von einer „Arabischen Renaissance“, vom „1848 der Araber“ usw.; alle in- und ausländischen 39 Diskutanten beschreiben die Situation mit unterschiedlichen Worten. Es wird ersichtlich, wie sich die Akademiker wieder und wieder an den der westlichen Geschichte entstammenden Worten abarbeiten. Nur Itagaki Yûzô verweist darauf, dass der Ursprung solcher Begriffe wie „Platz“, „Wunder“, „Bürger“, Renaissance“ nicht im Westen liegt. Ihre Wiege stünde eben östlich des Mittelmeers, wo Arabien, der Islam, Afrika sich kreuzten, so urteilt er voller Überzeugung. Angefüllt mit reichem Inhalt, kehrten sie nun zurück. In Martin Bernals „Schwarzer Athene“, die er emphatisch vorstellt, sieht er ein Ergebnis, das ihre von vielen Windungen geprägte Geschichte korrigierend nachzeichnet.

Das arabische Wort „Saura“, meist mit „Aufruhr“ übersetzt – welche Art von „Revolution“ impliziert es eigentlich? Das ist noch unklar. Dass aber etwas Gigantisches geschieht, daran gibt es keinen Zweifel.In dieser Welle gibt es – außer denen, die sich für Palästina interessieren – viele Menschen, die zynisch geworden sind. „Ist das nicht eine Facebook-Bewegung made in Amerika?“ steht ihnen im Gesicht geschrieben. Mitten in den Vorbereitungen, diese Schlaffheit zerschlagen zu wollen, brach am 11. März das Beben aus.

„Na, die Kantô-Ebene zittert mal wieder… dauert aber ganz schön lange“, denken wir fünf Leiharbeiter (einer in den Gassen von Tôkyô-Iidabashi gelegenen Firma) uns noch, arbeiten aber weiter. Die Lampen schwingen, Akten fallen herunter, und Angestellte der Firma, die ins Netz schauen, erheben ihre Stimme. Ein Lautsprecher gebietet uns, sofort auf den nahe gelegenen Sportplatz zu flüchten, der Achtgeschosser, von dem Kacheln herunterfallen, werde geschlossen. Während wir die Treppen hinunter laufen, wird die uns Freeter [Neologismus, der aus „free“ und „Arbeiter“ gebildet wurde, S.R.] von den Festangestellten trennende Membran dünner. Die Handys funktionieren nicht. Hunderte von Leuten werden ausgespuckt, Männer und Frauen mit herabbaumelnden Namensschildern versammeln sich fröstelnd auf ebener Erde. Hier hat einmal eine Artilleriewaffenfabrik gestanden. Gebannt blicke ich auf das Profil der diffus errötenden Gesichter der Office-Ladies. Würden die Gebäude um uns herum jetzt einstürzen, sollte ich dann nicht das Kommando über diese halbtrunkenen Truppen übernehmen? Sonst bringen die mich um. (Lachen.) Gerade versuche ich, von der Angst, nichts über die Situation ihrer Familien zu wissen, mit diesem schlechten Witz abzulenken, da ertönt die Stimme eines Angestellten: „Schluss für heute!“

Als ich entlang der Sotobori von Yotsuya in die Shinjuku-Strasse biege, werde ich von einer Menschenmenge aufgesogen, die in Richtung Shinjuku-Bahnhof zieht. Es sind nicht nur Firmenarbeiter. Leute mit Kinderwagen, bis hin zu Rollstuhlfahrern – Tausende, Zehntausende? Allen ist übel von diesem verfluchten Picknick. Saura und Erdbeben – wie soll man diese beiden Wellen leben? Diese Frage steigt aus meinem zitternden Körper empor.

Hirai Gen, 27. März 20117


4 Iwasa verstarb 2007 im Alter von 77 Jahren; siehe http://higuti.ti-da.net/e1896084.html

5 Siehe die ebenfalls 2005 gegründete Website Magajin 9-jô („Magazin Artikel 9“), auf der sich ein breites Spektrum von Verteidigern des Antikriegs-Artikels 9 der japanischen Verfassung artikuliert; http://www.magazine9.jp/list/demo/

7Die Übersetzung des gesamten Textes sowie weitere Übersetzungen bzw. Links auf kritische Beiträge: siehe http://wwwdup.uni-leipzig.de/~japan/cms/index.php?id=107

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