Vom Atombombenopfer zur Atomnation
Die Einführung der friedlichen Nutzung von Kernkraft in Japan von 1945–1957 von Dorothea Mladenova
2. Die Einführung der Kernkraft in Japan – Chronologie
2.1. Japans strategische Funktion im Kalten Krieg zwischen USA und UdSSR
2.2. Die dritte Verstrahlungskatastrophe im kollektiven Gedächtnis Japans
2.3. Die Durchsetzung der friedlichen Nutzung mit Hilfe der Medien
3. Japans Weg zum Atomstaat im Lichte der Akteur-Netzwerk-Theorie
3.1. Die Interaktion von Menschen und Artefakten innerhalb des Akteur-Netzwerks
3.2. Der findige Hotelmanager und der beschwerte Schlüssel
3.3. Vier Phasen der Übersetzung
3.4. Die Akteure im Projekt „Kernkraft für Japan“
3.5. Ein neuer Hybrid-Akteur entsteht
3.6. Die Handlungsprogramme der Pro-Atom-Liga
3.7. Elektrizität im Übermaß – die Erfindung des mittelständischen Konsumenten
6. Anhang. i-xi
「毒は毒をもって毒を制する」
Gift mit Gegengift bekämpfen. (jap. Sprichwort) /
Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. (sinngemäß)
Japan ist die erste und einzige Nation, welche Atombomben als militärisches Mittel erleiden musste. Das Tōhoku-Erdbeben und der folgende Tsunami am 11. März 2011 lösten eine weitere Verstrahlungskatastrophe aus, als es im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi zur Kernschmelze kam. Zehntausende Menschen mussten evakuiert werden und können das verstrahlte Gebiet um den Reaktor für die nächsten Dekaden wahrscheinlich nicht wieder besiedeln. Viele Beobachter fragten sich daraufhin: Wie kann es sein, dass die Nation, welche selbst eine Verstrahlungskatastrophe in höchstem Ausmaß erlebt hat, Kernkraft nutzt? Warum werden nicht die natürlichen Ressourcen an Wind, Wasser und Sonnenlicht genutzt und stattdessen Atomreaktoren in Küstennähe errichtet, zudem noch in der erbebenanfälligsten Region der Erde?
Die Kontroverse um die Atomkraft hat auch in Japan eine lange Geschichte. Eine öffentliche Diskussion findet allerdings kaum statt. Im Jahr 1994 wurde im halbstaatlichen Fernsehsender NHK eine Dokumentation mit dem Titel „Das Szenario der Einführung von Atomkraftwerken – Die Atomkraftstrategie gegenüber Japan im Kalten Krieg“ ausgestrahlt. In ihr werden alte Dokumente wie private Briefwechsel, Notizbücher und teilweise interne Regierungsdokumente ans Licht gebracht und an Hand dessen eine neue, fast verschwörungstheoretische Geschichte der Atomkraft in Japan nachgezeichnet.
Wie schaffte es derselbe Staat, der Japan 1945 noch mit der schlimmsten bis dato bekannten Waffe bombardiert hatte, bereits ein Jahrzehnt später die ersten Uranlieferungen zu leisten und den Transfer ebendieser in Japan einzig als tödlich bekannten Technik zu erreichen? In der Dokumentation wird gezeigt, wie der Hass gegen die zerstörerische Kraft des Atoms gerade mit dem Atom selbst bekämpft wurde, wie also in Japan unter dem Slogan „Gift mit Gegengift bekämpfen“ der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wurde.[i]
Wie genau dies geschah, dem soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Zunächst werden die grundlegenden Fakten aus der NHK-Dokumentation zusammengefasst und mit wichtigen Hintergrundinformationen ergänzt. Danach wird das Szenario der Einführung von Atomkraft in Japan mit den Begriffen der Akteur-Netzwerk-Theorie nach Bruno Latour und Michel Callon beschrieben und so wichtige Zusammenhänge herausgearbeitet.
2. Die Einführung der Kernkraft in Japan – Chronologie
2.1. Japans strategische Funktion im Kalten Krieg zwischen USA und UdSSR
Im Folgenden werden die Kernpunkte und -zusammenhänge der NHK-Dokumentation ausgeführt und mit weiteren Quellen angereichert. Für die zahlreichen interessanten Details wird eine gründliche Lektüre des Anhangs 1 empfohlen.
Der Zweite Weltkrieg endete für Japan mit einem nationalen Trauma: am 06. und 09. August 1945 wurden nacheinander die Städte Hiroshima und Nagasaki von den USA bombardiert. Dies waren die weltweit ersten (und hoffentlich letzten) militärisch eingesetzten Atombomben. Damit markierten die USA ihre vorläufige Überlegenheit im Wettlauf um die nukleare Macht, welcher sich bereits in den Jahren vor dem Krieg abgezeichnet hatte. Mit Ende des Krieges und dem Verhärten der zwei Fronten – USA und die NATO gegen die Sowjetunion und die Länder des Ostblocks – gewann der atomare Wettlauf an Intensität und mündete in einen Kalten Krieg, der mehr als 40 Jahre andauern sollte. Die Verhinderung einer weiteren Ausbreitung von sozialistischen Ideen und Staatsformen bestimmte die amerikanische Politik in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich. Verfolgten die amerikanischen Besatzer Japans in den ersten Monaten nach Kriegsende vor allem die Demokratisierung und Demilitarisierung des Landes[ii] – dies schloss die Befreiung von der faschistischen Regierung gefangener KP-Mitglieder und die Unterstützung der Entwicklung einer pluralistischen Parteienlandschaft ein – so versuchten sie ab 1947/8 verstärkt Japan für sich als „Bollwerk gegen den Kommunismus in Asien“ zu gewinnen. (Gordon 2003: 229-231, 239f) Während sich China auf die Gründung der Volksrepublik hin bewegte, konnte in Japan die Sozialistische Partei immer bessere Wahlergebnisse verbuchen und die Bürger massenhaft zu Streiks und Protesten gegen die korrupte Regierung mobilisieren. Mit Katayama Tetsu[iii] hatte Japan von Mitte 1947 bis Anfang 1948 sogar einen sozialistischen Premierminister (in einer Koalition mit der Demokratischen Partei), auch wenn bereits 1949 die Liberale Partei wieder über die Hälfte der Sitze im Abgeordnetenhaus gewann und damit allein und erneut unter Premierminister Yoshida Shigeru regieren konnte. (Gordon 2003: 238f) Immerhin fanden sozialistische Ideen aber offensichtlich bei den Wählern Anklang, sehr zum Missfallen der amerikanischen Besatzer.
Im Angesicht dieser Entwicklungen entschlossen sich die USA gegenüber Japan zu einer Kehrtwende der Politik, einem Reverse Course, der die anti-kommunistische Stellung Japans in Asien manifestieren sollte. Die Reformen sollten weitergehen, aber nicht zu weit (vor allem nicht zu sozial), Streiks und Gewerkschaften durften nicht an Boden gewinnen und möglichst unterbunden werden. In einer politischen Säuberungsaktion im Jahr 1950, dem Red Purge, wurden ca. 13.000 Menschen unter dem Verdacht zur Kommunistischen Partei zu gehören aus ihren öffentlichen oder privatwirtschaftlichen Stellen entlassen, mit der Begründung, ihre politischen Aktivitäten liefen den Zielen der Besatzer zuwider.[iv] Dieselbe Begründung hatte unmittelbar nach dem Krieg bei der Säuberung der Politik und Wirtschaft von ehemaligen militaristischen Führern gegolten. Diese wurden nun zum Teil rehabilitiert und erhielten wieder Zugang zu hohen politischen Positionen. (Gordon 2003: 239f) Mit dem Korea-Krieg (1950–1953) konnte Japan seine „Linientreue“ gegenüber den Besatzern beweisen: der Krieg im gerade erst von Japan befreiten Korea brachte einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung für die ehemalige Okkupationsmacht als die amerikanische Armee tonnenweise Kriegsmaterial im strategisch günstig gelegenen Japan bestellte. Diese außerordentliche Nachfrage (jap.: tokuju, 特需), wurde von Premierminister Yoshida lakonisch als „Geschenk der Götter“ bezeichnet. Am Ende des Krieges konnte die japanische Wirtschaft erleichtert auf zweistellige BIP-Wachstumszahlen und ein ausgesprochen positives Investitionsklima blicken. Außerdem wurde 1952 mit dem Friedensvertrag von San Francisco die amerikanische Besatzung offiziell beendet. (Gordon 2003: 241)
Währenddessen gelang es der Sowjetunion am 12. August 1953, die erste einsatzfähige Wasserstoffbombe zu entwickeln und damit eine Runde im nuklearen Wettrüsten für sich zu entscheiden. (Anhang 1: ii) Kurz darauf, am 8. Dezember 1953, folgte die vielbeachtete „Atoms for Peace“-Rede von US-Präsident Dwight D. Eisenhower, in welcher er alle Länder der Welt zur friedlichen Nutzung von Atomkraft aufrief:
„Die Regierungen aller Länder mit Nukleartechnologien sollten ihre Vorräte an natürlichem und angereichertem Uran und an sonstigen nuklearen Materialien der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) anvertrauen. Diese Institution soll Methoden entwickeln, mit denen Kernmaterial zu friedlichen Zwecken von allen Ländern gemeinsam genutzt werden kann.“ (Anhang 1: ii)
Dieser Vorschlag sollte die nukleare Abrüstung vorantreiben, indem zur Herstellung von Atomwaffen angereichertes Uran für zivile Zwecke wie Atomkraftwerke umfunktioniert werden sollte. (ebd.) Aber insgeheim planten auch die USA weitere Kernwaffentests, um die „Auswirkungen von Kernwaffen (Weapons Effects), den Einsatz von Atomwaffen (Use of Atomic Weapons), [und] das sowjetische Atomwaffenpotential (Soviet Atomic Capabilities)“ zu untersuchen (ebd., aus einem Dokument des Nationalen Sicherheitsrates der USA, 4.12.1953) und in den Ländern, welche mit ihnen verbündet waren (v.a. durch die NATO), Atomwaffen zu stationieren. Die Kernwaffentests konnten allerdings nicht geheimgehalten und mit dem Inhalt von Eisenhowers Rede keinesfalls in Einklang gebracht werden.
2.2. Die dritte Verstrahlungskatastrophe im kollektiven Gedächtnis Japans
Im Frühjahr 1954, kurz nach dem Apell Eisenhowers zur friedlichen Nutzung der Kernkraft, führten die USA auf dem südpazifischen Bikini-Atoll (Marshallinseln) die Kernwaffentests „Operation Castle“ durch. Die Operation begann am 01. März mit der Wasserstoffbombe Bravo. Der Test war lange und gründlich von der amerikanischen Atomenergiekommission (AEC) geplant worden und der vorhergesehene Fallout sollte nach den Berechnungen weder die Mitarbeiter des Forschungszentrums noch die Bewohner der Inseln oder umliegende Schiffe belasten. (Hacker 1994: 132-135) Allerdings war die tatsächliche Sprengkraft mehr als doppelt so stark wie erwartet und unvorhergesehene Winde trugen den radioaktiven Fallout kilometerweit in verschiedene Windrichtungen. (Hacker 1994: 140) Auf einigen umliegenden Atollen wurden erhöhte Strahlungswerte gemessen und deren Bewohner in den folgenden Tagen evakuiert. (Hacker 1994: 143-145) Einige von ihnen waren allerdings bereits verstrahlt. Der Vorsitzende der AEC Lewis Strauss wies alle Involvierten an, keine Informationen über den Fallout und die Evakuierungen preiszugeben. (Hacker 1994: 145) Das Aussickern der Informationen ließ sich aber ebenso wenig vermeiden wie die Ausbreitung der radioaktiven Partikel. Diese trafen die Besatzung eines zum Zeitpunkt der Detonation ca. 140km vom Ground Zero entfernt operierenden japanischen Fischerbootes namens „Glücklicher Drache V“ (daigo fukuryū maru, 第五福竜丸).
“In the early morning of 1 March, Fukuryu Maru had been trawling for tuna 100 miles east of Bikini. Crew members saw a bright flash on the western horizon, then felt the shock about seven minutes later. As a mushroom cloud spread to darken the sky, the captain decided to head for home. Three hours later, halfway through hauling the fishing lines, crew members saw, and felt, the first white flakes falling on the vessel. Later termed ‘ashes of death’[v], fallout lasted four hours and covered the ship with a thin snowlike blanket. The first symptoms appeared quickly, as crew members suffered itching skin, smarting eyes, and nausea. Several vomited. Worse followed during the two-week voyage home: skin discolored and blistered, hands swelled and ached, hair loosened and fell out, eyes and ears oozed a thick yellow secretion.” (Hacker 1994: 148)
Die 23-köpfige Besatzung wurde bei ihrer Ankunft in Japan ärztlich versorgt und von japanischen und amerikanischen Strahlungsexperten beobachtet. Die gefangenen Vorräte an Thun- und Haifisch auf dem Boot waren allerdings bereits verkauft worden. Mit Bekanntwerden der Kontaminierung des Bootes wurde dieser Fisch zurückgezogen, aber bei Fisch rund um das Bikini-Atoll herum wurde weiterhin eine erhöhte Radioaktivität festgestellt. Dies löste eine sog. „Thunfisch-Panik“ aus (Hacker 1994: 149). Weitaus heftiger war jedoch die Reaktion in Anbetracht des nunmehr dritten Verstrahlungsdramas in Japan, welches durch die USA verursacht worden war. Die Erinnerungen an Hiroshima und Nagasaki waren noch frisch, es folgte eine anti-amerikanische Debatte sowie eine „Strahlen-Panik“ (Anhang 1: iii).
Als die AEC von dem Vorfall erfuhr, ergriff sie umgehend Maßnahmen, um einen politischen Konflikt zwischen den USA und Japan zu verhindern. So wurden bspw. Experten der Kommission zur Untersuchung der Atombombenopfer (ABCC), welche gegründet worden war, um die Spätfolgen der Strahlung unter den Überlebenden nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki zu untersuchen, nach Japan geschickt, um die Regierung zu unterstützen. Allerdings hegten japanische Wissenschaftler und Medien Misstrauen gegenüber den Amerikanern:
„Newspapers speculated about Japanese scientists exploited as mere information gatherers while Americans took the credit – exactly, in Japanese eyes, what happened after Hiroshima and Nagasaki. Japanese scientists did indeed harbor such fears […] Tsuzuki [Radiologe an der Universität Tokio, Anm. DM] recalled only too well the shabby treatment he and his colleagues had received in 1945 and 1946.” (Hacker 1994: 149)
Die AEC organisierte Gelder für die Erforschung der Verstrahlungen und die medizinischen Behandlungskosten der Strahlungsopfer, doch die japanischen Ärzte verwehrten den amerikanischen Kollegen den direkten Kontakt mit den Patienten. Gerade in der Frage der Verantwortung für den Unfall, welcher in Japan als daigo fukuryū maru jiken (第五福竜丸事件) bezeichnet wird, gab es Spannungen. Diese verstärkten sich, als der Funkchef des „Glücklichen Drachen V“, Kuboyama Aikichi, am 23. August 1954 an der Strahlenkrankheit starb. Der AEC-Vorsitzende Strauss verkündete daraufhin öffentlich, das Boot habe sich zwar innerhalb der Gefahrenzone begeben, die Verletzungen der Besatzung seien aber wohl eher auf die chemische Aktivität des veränderten Materials in herumfliegenden Korallen als auf Radioaktivität zurückzuführen. (Hacker 1994: 150) Ein Dokument des Weißen Hauses belegt ebenso, dass dies eine Strategie war, mit der Verantwortung umzugehen. (Anhang 1: vi) Auch die Patienten selbst wollten nicht von amerikanischen Ärzten behandelt werden, aus der – wie sich später in diplomatischen Korrespondenzen erwies, durchaus begründeten – Angst, sie könnten weniger als Patienten denn als Forschungsobjekte wahrgenommen werden. (Hacker 1994: 151)
2.3. Die Durchsetzung der friedlichen Nutzung mit Hilfe der Medien
Nachdem sich in Japan mit dem „Vorfall Glücklicher Drache V“ (daigo fukuryū maru jiken, 第五福竜丸事件) bereits eine dritte atomare Verstrahlungskatastrophe in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hatte, erschien es schier unmöglich, die Nutzung der Kernkraft zur Erzeugung von Energie durchzusetzen. Zu tief saßen die traumatischen Erinnerungen, als dass die Bevölkerung den Atomen noch etwas Positives hätte abringen können. Um diese öffentliche Meinung gezielt umzukehren, richtete die USA in Japan (sowie auf der ganzen Welt) den United States Information Service (USIS; auch: United States Information Agency, USIA) ein. „Der USIS begann über Medien wie Zeitungen, Rundfunk und Film für das amerikanische „Atoms for Peace“-Programm zu werben.“ (Anhang 1: iii)
Außerdem suchte man sich prominente und einflussreiche Atomkraftbefürworter bzw. solche, die dem Atom nicht abgeneigt waren, um sie von den wirtschaftlichen Vorteilen der Kernkraft zu überzeugen. Auf der politischen Ebene waren die konservativen Kabinette Yoshida Shigerus (Oktober 1948 – Dezember 1954) und Hatoyama Ichirōs (Dezember 1954 – Dezember 1956) den USA sowie der Kernkraft gegenüber positiv eingestellt. Eine außerordentliche Rolle für die Einführung der Kernenergie in Japan spielte aber Shibata Hidetoshi (柴田秀利), der „in den oberen Kreisen der politischen und wirtschaftlichen Welt [verkehrte], an deren erster Stelle Premierminister Yoshida stand“ (Anhang 1: iii). Außerdem verfügte er über gute Beziehungen in Japan und in den USA, vor allem aber zu den General Headquarters (GHQ), der Besatzungsbehörde der USA in Japan. Er wurde von Shōriki Matsutarō (正力松太郎), dem Chef der Yomiuri Shinbun – bis heute eine der größten Tageszeitungen in Japan – 1953 zum Leiter des ersten privaten Fernsehsenders in Japan, Nihon-TV[vi], ernannt. Ein gewisser Daniel Watson, dessen institutionelle Zugehörigkeit bis heute unbekannt ist[vii], näherte sich als Repräsentant der USA Herrn Shibata mit dem Ziel, an Shōriki und damit an die beiden größten Medien des Landes heranzukommen, um über diese Kanäle die friedliche Nutzung von Kernkraft (jap.: genshiryoku no heiwariyō, 原子力の平和利用) landesweit zu propagieren. Dies sollte mit dem Argument begründet werden, Japan besitze keine eigenen Energieressourcen, daher sei der einzige Ausweg die Kernkraft. (Anhang 1: v-vi) Das Interesse an Atomkraft war von japanischer (Regierungs-)Seite auch damit begründet, dass die Armut der unmittelbaren Nachkriegszeit die Menschen scharenweise zum Kommunismus habe hinführen können, und um dies zu verhindern, müsse mit der damals vielversprechenden Kernkraft Energie im Überfluss erzeugt, die Armut bekämpft und damit einer kommunistischen Tendenz vorgebeugt werden. (Anhang 1: vi).
Während die USA noch immer keine Verantwortung für das Verstrahlungsunglück „Glücklicher Drache V“ übernehmen wollten, begannen die Kommunistische Partei (kyōsantō, 共産党), die Sozialistische Partei (shakaitō, 社会党) und Gewerkschaften sowie andere linke Kräfte gegen die US-freundliche Regierung zu agitieren. Die UdSSR sah darin eine Chance, mit Japan wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Außerdem strebte die UdSSR ebenso wie die USA danach, mit freundlich gesinnten Nationen bilaterale Abkommen zur Lieferung von angereichertem Uran und Atomtechnik für die friedliche Nutzung von Atomkraft abzuschließen. Am 14.1.1954 ließ die Sowjetunion vermelden, dass sie mit China, Polen, der DDR, der Tschechoslowakei und Rumänien Abkommen geschlossen hatte. Die USA versuchten zu sondieren, ob Japan bereit wäre, mit ihnen ein ähnliches Abkommen zu unterzeichnen und so einen konkurrierenden Atomblock zu bilden. (Anhang 1: vii) Die demgegenüber kritischen Stimmen aus der Gesellschaft und der Wissenschaftswelt zu überzeugen und ein Abkommen mit den USA zu unterzeichnen sollte ihnen nach einem breit angelegten Propaganda-Programm auch gelingen. Hierzu wurde eine Delegation aus den USA eingeladen, welche die Atomkraft als zukunftsweisende Energieerzeugungsmethode präsentieren sollte: die zivile „Atoms for Peace“-Mission. John Hopkins, Präsident des US-amerikanischen Rüstungskonzerns General Dynamics, welcher 1954 das weltweit erste atombetriebene U-Boot entwickelt hatte, wurde im Mai des folgenden Jahres gemeinsam mit dem Physiknobelpreisträger Ernest Lawrence und dem Finanzierungsexperten Lawrence Hafstead in Japan offiziell begrüßt.[viii] (Anhang 1: ix) „Die Gesandtschaft verhandelte wiederholt energisch mit Premierminister Hatoyama und wichtigen Persönlichkeiten der Politik- und Finanzwelt und drängte unter der Bedingung des Angebots von angereichertem Uran auf einen schnellen Abschluss des japanisch-amerikanischen Atomabkommens.“ (ebd.) Davor waren in der Yomiuri Shinbun immer wieder Artikel zur Atoms-for-Peace Kampagne erschienen.[ix] Als die Delegation angekommen war, gab es in der Stadthalle von Hibiya zudem eine großangelegte PR-Veranstaltung mit Live-Übertragung im Fernsehen. Shibata Hidetoshi und Shōriki Matsutarō nutzten die Infrastruktur der Yomiuri Shinbun und von Nihon-TV, um die PR-Kampagne in jeden japanischen Haushalt zu tragen.
„‚Sowohl die Yomiuri, als auch Nihon TV gründeten gemeinsam eine Sonderuntersuchungsgruppe zur Atomenergie und drängten die öffentliche Meinungsbildung dahingehend voran, dass man der Mission der beiden Medien positiv gegenüber stand. Ich sah die Zeit gekommen, eine regelrechte Großkampagne zu initiieren, bei der die beiden Medien, Yomiuri und Nihon TV, aufeinander abgestimmt werden und verschrieb mich dieser Sache mit Leib und Seele.‘ (aus den Aufzeichnungen Shibatas)“ (Anhang 1: vii)
Der Erfolg der Mission und des USIS war schon bald sichtbar. Laut einem amerikanischen Bericht aus dem Jahr 1959 habe die Zustimmung zu Atomen innerhalb weniger Jahre bereits bedeutend zugenommen: „Because of the active American and Japanese ‚Atoms for peace‘ sales pitch, the percentage who equated ‚atom‘ with ‚harmful‘ dropped from 70 percent in 1956 to 30 percent in 1958, the report said.“ (Sugita 2007) Shōriki gelang es ebenso, die Wissenschafts- und Finanzwelt von der Atomkraft zu überzeugen. Am 21. Juni 1955 wurde das japanisch-amerikanische Atomabkommen (jap.: 日米原子力協定, auch: 日米原子力研究協定)[x] unterzeichnet – 15 Monate nach dem Vorfall „Glücklicher Drache V“. (Anhang 1: x) Japan erhielt damit erstmalig Lieferungen von angereichertem Uran. Bereits zwei Jahre danach erreichte der erste japanische Atomreaktor in Tōkaimura die Kritikalität. Nach einer zehnjährigen Forschungs- und Entwicklungsphase im Jahr 1966 konnte dieser schließlich zur kommerziellen Energiegewinnung genutzt werden.
Die Implementierung der zivilen Nutzung der Kernenergie hatte in Japan vom Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Atombombenabwürfen im August 1945 bis zur Unterzeichnung des Atomabkommens mit den USA im Juni 1955 gerade einmal 10 Jahre gedauert. Innerhalb dieser Zeit hatten die politischen und medialen Befürworter in Japan – allen voran Shibata Hidetoshi und Shōriki Matsutarō – gemeinsam mit ihren amerikanischen Kollegen – dem USIS, Daniel Watson und der „Atoms for Peace“-Mission – es geschafft, den industriellen und Finanzsektor, die Wissenschaftswelt sowie den Großteil der Öffentlichkeit von den Vorteilen der zivilen Nutzung der Kernkraft zu überzeugen bzw. Gegner auszuschalten. Das Drängen der USA auf die Nutzung von Atomkraft in Japan ist aus dem Kontext des Kalten Kriegs heraus zu erklären, innerhalb dessen sich zwei Atomblöcke bildeten. Die USA wollte in Nachkriegsjapan einen starken Partner in Ostasien schaffen, der einerseits keine faschistischen und imperialistischen Interessen mehr verfolgen und andererseits den kommunistischen Tendenzen in Asien entgegenwirken sollte. Dies sollte durch einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung gelingen, der die Armut nach dem Weltkrieg bekämpfen konnte. Mit Hilfe der kosteneffizienten Kernkraft sollte die Nachkriegsindustrie zügig wachsen. In Abbildung 1 wird versucht, diese Entwicklung schematisch darzustellen.
Abbildung 1: Die Einführung der friedlichen Nutzung von Kernkraft in Japan zwischen 1945 und 1957.
In der Abbildung wird deutlich, wie die Befürworter der Kernkraft in den USA nach Japan hin ein Netzwerk gesponnen haben, welches bald auch die japanische Bevölkerung umfassen sollte. In diesem Netzwerk agieren nicht nur Personen und Staaten miteinander, sondern auch das Atom und das Kraftwerk selbst bilden als Akteure Netzwerke mit den Menschen.
3. Japans Weg zum Atomstaat im Lichte der Akteur-Netzwerk-Theorie
3.1. Die Interaktion von Menschen und Artefakten innerhalb des Akteur-Netzwerks
Im Folgenden werden die Grundbegriffe der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), sofern die ANT sich überhaupt in Begriffe fassen lässt, in ihrem Zusammenhang erläutert: Akteur, Netzwerk, Aktant, Handlungsprogramm, Übersetzung, Gewichtung, Hybrid-Akteur. Mit diesen Begriffen kann daraufhin Japans Weg zum Atomstaat nachgezeichnet werden.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), welche im Wesentlichen von Bruno Latour und Michel Callon entwickelt wurde, ist ein moderner Strang der Techniksoziologie, einer speziellen Soziologie, welche sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen von Technik beschäftigt. Die ANT basiert auf der Denktradition des Konstruktivismus und wehrt sich gegen die dichotomische Trennung der Welt in Subjekt vs. Objekt oder Natur vs. Kultur/ Technik. Für die ANT gibt es keinen Unterschied zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, denn alle Akteure oder – in den Worten Latours – Aktanten beeinflussen sich gegenseitig. Ihnen können unabhängig von ihrer Belebtheit Ziele und Funktionen innewohnen. Ein Netzwerk besteht und funktioniert nur insofern, als jeder Bestandteil darin eine ihm zugewiesene Funktion innehat und diese erfüllt; jeder Bestandteil oder jeder Aktant funktioniert wiederum nur in Relation zu allen anderen Aktanten. Diese entstehen auch erst durch ihre Interaktion mit anderen Aktanten. Diese Idee gründet sich auf Saussures Semiotik, laut welcher Sprache nur deshalb Dinge bezeichnen kann, „weil sie aus Zeichen besteht, die in einem differentiellen System bestimmte Relationen miteinander eingehen. […] Worte sind demzufolge nicht Bezeichnungen von Dingen, sondern Positionen, oder – wie Saussure sagt – ‚Werte‘ in einem Zeichensystem“ (Belliger/Krieger 2006: 27f). Erst durch die Positionierung zu anderen Zeichen erhalten sie ihre Bedeutung.
Eine zentrale Fragestellung der Techniksoziologie ist, wie Technologie entsteht und unter welchen Bedingungen sich eine bestimmte Technik gegenüber einer anderen durchsetzt. Die zwei grundlegenden traditionellen Ansätze nähern sich der Frage mit zwei konkurrierenden Herangehensweisen an. Auf der einen Seite steht die Annahme, dass Technik sich quasi von alleine entwickelt und dabei eigenen Gesetzen folgt, wie z.B. dem Fortschritt und der Effizienzsteigerung. Dabei beeinflusst sie den Menschen und verändert ganze Gesellschaften, wenn z.B. der Buchdruck oder die Massenmedien mit ihren Konsequenzen im Alltag und der Veränderung des Maßstabs ganze Epochen geprägt haben sollen. Die Technik wird hier „als ‚Sachzwang‘ oder als sich verselbständigte und außer Kontrolle geratene Entäußerung bzw. Erweiterung des Menschen betrachtet“ (Belliger/Krieger 2006: 20). Diese Denkströmung wird als Technikdeterminismus bezeichnet. Im Gegensatz dazu behaupten Theorien innerhalb des sozialdeterministischen Paradigmas, dass Menschen und Gesellschaften selbst entscheiden, ob und wie eine Technik eingesetzt wird. Technik ist hier „ein bloßes Werkzeug, das menschlichen Zwecken dient“, Werkzeuge werden zum Teil nur als Fortsetzung des menschlichen Körpers und seiner Sinnesorgane angesehen. (Belliger/Krieger 2006: 21) Technik kann z.B. aus politischen, wirtschaftlichen oder ökonomischen Interessen heraus entwickelt werden.
Diese beiden traditionellen Stränge der Techniksoziologie haben gemeinsam, dass in ihnen Technik und Gesellschaft dichotomisch voneinander getrennt sind: Wissenschaft und Technik stehen für die Natur, die Gesellschaft steht für Freiheit und Subjektivität. Wenn diese beiden Bereiche strikt voneinander getrennt sind, können sie sich gegenseitig beeinflussen oder sogar bedrohen. Dies illustriert Latour am Beispiel der Pistole. Nach technikdeterministischer und materialistischer Sicht sind es Waffen, die Menschen töten. (Khong 2003: 695) Die bloße Existenz einer Schusswaffe kann einen Menschen dazu bringen, einen flüchtigen Moment von Aggression in eine tatsächliche Handlung umzusetzen, sie tötet einen Menschen und macht einen anderen zum Mörder. Ein Vertreter der sozialdeterministischen Sicht würde hingegen argumentieren, dass das Werkzeug Schusswaffe lediglich eine Fortsetzung der menschlichen Hand und damit des menschlichen Willens ist, physische Gewalt auszuüben. Sie kann für gute oder für schlechte Zwecke eingesetzt werden und ihr wohnt kein eigenes Ziel inne. (ebd.) Die ANT im Sinne von Latour hingegen grenzt sich von beiden Denktraditionen ab, indem sie alle involvierten Dinge – in diesem Fall Pistole, Hand, momentane Aggression – nicht als separate Einheiten betrachtet, die durch den gesamten Prozess hinweg getrennt bleiben, sondern als Akteure bzw. Aktanten, welche sich über den Prozess hinweg transformieren und damit ein Netzwerk erschaffen. So kann die momentane Aggression die menschliche Hand dazu bringen, physische Gewalt auszuüben, doch erst durch die Waffe kann ein Tötungswunsch schnell und sauber in die Tat umgesetzt werden. Ebenso kann durch die Waffe in der Hand des Menschen ein bloßer Verletzungswunsch in einer Tötung enden. Es ist weder allein der Mensch, welcher die Tat begeht, noch die Waffe, sondern ein Hybrid-Akteur, welcher sich aus beiden zusammensetzt: eine „Menschen-Waffe“ oder ein „Waffen-Mensch“ (Belliger/Krieger 2006: 42) oder ein „Menschentötungsinstrument“.
Jeder Hybrid-Akteur ist gleichzeitig ein Netzwerk. Man kann aus jedem Netzwerk hinein- oder herauszoomen und entdeckt sogleich ein neues Netzwerk bzw. neue Akteure und Hybrid-Akteure:
„Die gegenseitige Übersetzung führt dazu, dass weder Mensch noch Waffe allein handeln, sondern ein neuer Akteur zusammengesetzt aus Mensch und Waffe. Der Akteur ist ein Hybrid-Akteur, ein Kollektiv, ein Netzwerk. Da es nie Menschen ohne Technik gibt, ist davon auszugehen, dass Akteure immer Hybriden sind, und dass jeder Akteur zugleich auch ein Netzwerk ist.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist ein fraktales Modell [Hervorhebung: DM], denn Netzwerke bestehen aus Akteuren, die sich selbst aus heterogenen Elementen zusammensetzen, d.h. Netzwerke sind. Es gibt keine einfachen Letztelemente – weder auf der Seite des Sozialen noch auf der Seite der Natur und der Materie.“ (Belliger/Krieger 2006: 43)
Die Schusswaffe ist kein neutrales Werkzeug, wie es im sozialdeterministischen Kontext heißt, da sie zu dem Zweck erschaffen wurde, auf Lebewesen zu schießen, und somit eine Handlungsanweisung enthält. Der Erfinder der Schusswaffe wollte ein Instrument schaffen, welches den Gegner aus sicherer Entfernung schnell ausschalten kann. Ein Mensch, welcher in einem bestimmten Moment Aggression verspürt und damit das Handlungsprogramm: „Ich möchte jemanden verletzen“ verfolgt, kann dadurch, dass ihm eine Waffe in die Hände gerät, sein Handlungsprogramm verändern – möglicherweise will er im Besitz der Schusswaffe sogar töten. Diese Transformation des Handlungsprogramms eines Akteurs nennt Latour „Übersetzung“. Das Konzept der Übersetzung lässt sich auch am Beispiel des Hotelmanagers erklären, welcher dem Verlust seiner Hotelschlüssel vorbeugen will (Latour 2006).
3.2. Der findige Hotelmanager und der beschwerte Schlüssel
Der Hotelmanager eines europäischen Hotels lamentiert den großen Schlüsselschwund, welcher entsteht, wenn seine Hotelgäste ihre Zimmerschlüssel beim Verlassen des Hotels mitnehmen und verlieren oder deren Taschen gestohlen werden. Die Neuanfertigung der Schlüssel kostet ihn jedes Jahr so viel Geld, dass er sich diesen Posten gern für Wichtigeres sparen möchte. Da seine Rezeption 24 Stunden lang besetzt ist, beschließt er, die Gäste aufzufordern, ihre Schlüssel beim Verlassen des Hotels abzugeben und sie bei der Rückkehr wieder zurückzufordern. Er möchte so dem Schlüsselverlust vorbeugen. Für die Hotelgäste ist es allerdings eine zusätzliche Belastung, an die Abgabe des Schlüssels zu denken und bei der Rückkehr möglicherweise ermüdet an der Rezeption darauf warten zu müssen. Dies führt dazu, dass trotzdem zahlreiche Gäste weiterhin ihre Schlüssel mitnehmen und diese zum Teil verlorengehen. Dies liegt nicht unbedingt daran, dass die Gäste kein Verständnis für die Argumentation des Hotelmanagers aufbringen, sondern schlichtweg an dem minimalen Zusatzaufwand, an die Schlüsselabgabe zu denken und beim Betreten des Hotels erneut danach fragen zu müssen. Aus Rational Choice-Theoretischer Sicht könnte man sagen, das Kosten-Nutzen-Kalkül fällt für die Gäste negativ aus, denn sie tun damit einzig dem Hotelmanager einen Gefallen – selbst haben sie nichts davon. Außerdem verstehen ausländische Gäste möglicherweise die Aufforderung sprachlich nicht. So muss sich der Hotelmanager etwas einfallen lassen, um den Gästen seinen Willen aufzudrängen. Er entwickelt nacheinander mehrere Handlungsprogramme. Zunächst lässt er die Rezeptionisten beim Check-In die Aufforderung an die Gäste aussprechen, ihren Schlüssel bei jedem Verlassen des Hotels abzugeben, und „beschwert“ diese Aufforderung mit dem höflichen Wort „Bitte“. Da dies kaum etwas bringt, formuliert er diese Aussage zusätzlich schriftlich. Er lässt überall Schilder aufstellen, welche dieselbe Aussage enthalten. Doch auch hier reagieren nur wenige Gäste entsprechend der Aufforderung. Die negative Reaktion der Gäste auf das Handlungsprogramm des Hotelmanagers wird als Anti-Programm bezeichnet. Er muss sich noch etwas anderes einfallen lassen, um die Gäste zu überzeugen, ihren Schlüssel abzugeben. Also versetzt er sich in ihre Position und fragt sich, was aus Sicht der Gäste eine Motivation sein könnte, den Schlüssel abzugeben. Er beschließt also, jeden Schlüssel zusätzlich mit einem sperrigen, schweren Gegenstand zu „beschweren“. Dies führt dazu, dass der Schlüssel den Gästen schwer und lästig wird und sie froh sind, wenn sie ihn nicht mit sich herumtragen müssen. Der Hotelmanager bringt damit die meisten Gäste dazu, ihre Schlüssel an der Rezeption abzugeben, indem er für sie einen Nutzen darin geschaffen hat. Bis hierhin ist das Handlungsprogramm ausreichend mit dem Rational-Choice-Ansatz erklärt. Doch was ist mit dem ursprünglichen Handlungsprogramm und den Aktanten während dieses Prozesses passiert?
Laut der ANT sind in diesem Beispiel alle Menschen sowie Artefakte Aktanten. Nicht nur der Hotelmanager, die Rezeptionisten und die Hotelgäste interagieren miteinander, sondern auch die Schilder und die Schlüssel interagieren mit allen anderen, sie besitzen eine Funktion und eine Rolle im Raum bzw. im Netzwerk. Im Prozess der Erfindung einer neuen Schlüsselform haben sich diese Aktanten verändert. Aus dem Schlüssel ist durch die Beschwerung oder Gewichtung mit mündlichen und schriftlichen Aussagen sowie dem schweren Gegenstand ein neues Artefakt bzw. ein neuer Aktant geworden, etwa ein „europäischer Hotelschlüssel“ (Latour 2006: 372) oder ein „sperriges Aufschließobjekt“. Die Aufforderung des Hotelmanagers „Bitte bringen Sie Ihren Schlüssel zurück“ wurde „übersetzt“, indem den Gästen der Wunsch eingepflanzt wurde, einen sperrigen Gegenstand loszuwerden. „Die Gäste geben nicht länger ihren Zimmerschlüssel ab, sondern sie entledigen sich eines sperrigen, ihre Taschen deformierenden Objekts.“ (Latour 2006: 371) Der Wunsch des Hotelmanagers wurde mit jedem zusätzlichen Handlungsprogramm „gewichtet“ oder „übersetzt“. Dies hat ihn allerdings auch Zeit, Mühe und Geld gekostet. Doch wenn er nur einen Teil des Handlungsprogramms auslassen würde, würden wieder weniger Hotelgäste seinem Wunsch folgen. Sie könnten z.B. das Gewicht am Schlüssel für ein hoteleigenes Accessoire halten und sich nicht allzu sehr an seinem Gewicht stören. Nur durch die „konstante Erhaltung der gesamten Abfolge akkumulierter Elemente [des Handlungsprogramms – mündliche, schriftliche Aufforderung + Schlüsselgewicht, Anm. DM] ist der Erfolg der Innovation“ möglich (Latour 2006: 375). Folgendes Schaubild illustriert dies:
Abbildung 2: Handlungsprogramm und Anti-Programm nach Latour (2006: 373).
3.3. Vier Phasen der Übersetzung
„Übersetzung ist der dauernde Versuch, Akteure in ein Netzwerk einzubinden, indem sie in Rollen und Interessen ‚übersetzt‘ werden (Latour 1987), d.h. indem ihre Interessen angeglichen und gemeinsam ausgerichtet werden.“
(Belliger/Krieger 2006: 38f)
Im Beispiel des Hotelschlüssels ist ein neuer Aktant entstanden: das „sperrige Aufschließobjekt“. Es erfüllt die Funktion, das Ziel des Hotelmanagers auf die Hotelgäste zu übertragen, er agiert somit als dessen Vermittlungsinstanz, also als Vertreter, Fürsprecher oder Delegierter (Belliger/Krieger 2006: 41). In einem Prozess der Übersetzung ist ein neues Netzwerk entstanden. Dieser Prozess kann in vier Phasen aufgeteilt werden: 1. Problematisierung, 2. Interessement, 3. Enrolment und 4. Mobilisierung (Belliger/Krieger 2006: 40).
Zunächst muss der übersetzende Akteur, im obigen Beispiel der Hotelmanager, ein Problem so definieren, „dass andere es als ihr Problem akzeptieren“ (ebd.). Dies ist die Problematisierung. Danach muss das kooperative Handeln, das zur Problemlösung führen soll, gesteuert werden, indem eine Rollenverteilung stattfindet. Der übersetzende Akteur definiert Identitäten, Funktionen und Rollen für sich selbst und für die anderen Akteure, welche sich wiederum für diese Rollenzuschreibungen interessieren und sie akzeptieren müssen. Alte Netzwerke werden so langsam aufgelöst, die Akteure treten in einem neuen Netzwerk in Interaktionen (Interessement). Unter Enrolment versteht man die Annahme der Rollenzuschreibungen durch die Akteure: „Wenn Akteure sich rekrutieren lassen, werden sie von Opponenten zu Verbündeten.“ (ebd.) Im Zuge der Phase der Mobilisierung treten die Akteure in Transaktionen und stabilisieren so das antizipierte Netzwerk.
Wie kann man die Theorie des Akteur-Netzwerks nutzen, um die Einführung von Atomkraft in Japan zu verstehen?
3.4. Die Akteure im Projekt „Kernkraft für Japan“
Auf Grundlage der NHK-Dokumentation sollen im Folgenden Aktanten herausgearbeitet werden, welche innerhalb des Prozesses der Implementierung von Kernkraft – angefangen bei den Atombombenabwürfen 1945 bis hin zum Bau des ersten einsatzfähigen AKW in Tōkaimura 1956 – entstanden und in ein Netzwerk getreten sind.
Wie im 2. Kapitel geschildert, hatte sich in Japan nach dem dreifachen Verstrahlungserlebnis nicht nur eine grundsätzliche Ablehnung der Atomkraft sondern geradezu eine Strahlenpanik breitgemacht. Allerdings beherrschten nach der Niederlage im Pazifik-Krieg Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit das Land. Die Nachkriegsordnung wurde in großem Maße von der amerikanischen Okkupationsmacht geschrieben. Dabei wurde die anfänglich unbändige Reformlust gegen Ende der 1940er gedrosselt, um das Land nicht wie viele andere Regionen in Ost- und Südostasien einem Linksruck anheimfallen zu lassen. Führungspersönlichkeiten aus der Vorkriegszeit, unter ihnen auch mutmaßliche Kriegsverbrecher, gelangten in Folge des Red Purge wieder zu hohen Positionen. Hier zeichnen sich bereits die ersten wichtigen Akteure ab: die USA (in Form ihrer in Japan installierten Institutionen GHQ und USIS bzw. Einzelpersonen wie Daniel Watson, welche die amerikanische politische Linie in Japan implementieren sollten) und japanische Führungskräfte (die US-freundliche Regierung unter Premierminister Yoshida und Hatoyama) auf der einen Seite, beide quasi in der Rolle des Hotelmanagers, und das japanische Volk auf der anderen Seite, welches innerhalb der folgenden Jahre den gebündelten Willen von US-Vertretern und ihrer eigenen Führungskräfte übernehmen soll.
Für die japanische Führung war es ein grundlegendes Ziel, nach dem Krieg so schnell wie möglich die Armut zu bekämpfen und die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, um ökonomisch sowie politisch die führenden Industrienationen aufholen zu können. Die USA nutzten dies, um ihre Interessen in der Nuklearforschung und dem Kalten Krieg für die japanische Regierung zu übersetzen. Mit der Nuklearforschung und Kernwaffentests sollte eine militärische Überlegenheit gegenüber dem größten politischen Gegner UdSSR erreicht werden (Problematisierung 1). Hierzu mussten geeignete internationale Partner aufgespürt und an die Interessen der USA gebunden werden. Japan eignete sich ideal als solcher Partner (Interessement 1). Die Partnerschaft manifestierte sich unter anderem in der Errichtung eines Atomblocks, in dem radioaktives Material geliefert und neueste wissenschaftliche Forschungsergebnisse übermittelt werden sollten. In späteren Jahren war auch die Durchfahrt und Stationierung von Kernwaffen insgeheim Teil dieser Abmachungen, obwohl Japan das einzige Land war, das den drei Prinzipien folgte, „Atomwaffen nicht zu besitzen, nicht zu produzieren und nicht auf seinem Territorium zu dulden“[xi]. Um das Ziel der Unterzeichnung von Atomabkommen zu erreichen, mussten sich die USA in Japan Verbündete suchen. Diese fanden sie in der Politik und vor allem in den Medien, deren außerordentliche Macht als Transporteur staatlicher Propaganda sie früh erkannten (Enrolment 1). Hier treten als zusätzliche Verbündete der USA zwei neue Akteure auf: Shibata Hidetoshi (Nihon TV) und Shōriki Matsutarō (Yomiuri Shinbun). Diese Akteure nahmen ihre ihnen zugewiesenen Rollen bereitwillig an und bauten mit den amerikanischen Kollegen ein neues Netzwerk auf. Im Zuge dessen lösten sich diese Akteure aus bestehenden alten Netzwerken – ein plakatives Beispiel dafür stellt Shōriki dar, der zuvor als Faschist und imperialistischer Mittäter von den Kriegsgewinnern ins Gefängnis gebracht worden war; im neuen Netzwerk kommt ihm allerdings die Rolle eines Verbündeten der USA zu. Die neu gewonnenen Akteure engagierten sich gemeinsam mit den USA in der Einführung von Kernkraft (Mobilisierung 1). Dabei wurde die ursprüngliche Intention der USA, durch Nuklearforschung und internationale Blockbildung im Kalten Krieg Überlegenheit zu erlangen, im Laufe des Prozesses transformiert in den Willen (auf japanischer Seite), Japan mittels Atomkraft auf wirtschaftlicher und politischer Ebene international konkurrenzfähig zu machen.
Die Gewinnung der japanischen Führungskräfte stellt die erste Phase in der Einführung von Kernkraft in Japan dar. In diesem Prozess verschmelzen die amerikanischen und japanischen Befürworter der Atomkraft zu einem einzigen Aktanten, der Pro-Atom-Liga. Ihre Aufgabe ist es in einer zweiten Phase, die Anti-Atom-Liga von ihrem Willen zu überzeugen (Problematisierung 2). Die Anti-Liga setzt sich aus den größten Teilen der japanischen Bevölkerung und aus politischen Vertretern der linken Parteien sowie Gewerkschaften zusammen. Die Bevölkerung hätte das gesamte Atom-Projekt mit Demonstrationen oder mit der Wahl einer anderen Regierung boykottieren können. Um die Anti-Liga von der positiven Kraft des Atoms zu überzeugen musste sich die Pro-Liga also etwas einfallen lassen.
Auf der politökonomischen Agenda stand das Thema Armutsbekämpfung an oberster Stelle. Hierfür gibt es unendlich viele Lösungsansätze, die nicht unbedingt Elektrizität aus Atomkraftwerken einschließen. In diesem Sinne ist die Atomkraft kontingent. Die Kommunistische Partei und die Sozialistische Partei Japans hatten sicherlich ihre eigenen Lösungsvorschläge, welche ohne Atomkraft ausgekommen wären, und zu diesem Zeitpunkt erfreuten sie sich auch einer breiten Anhängerschaft. Noch schwerer für die Pro-Atom-Liga wog allerdings das Problem der generellen Ablehnung von Atomkraft. Den Amerikanern gelang hier ein außerordentlicher Kniff: die Trennung der Konzepte der militärischen und friedlichen Nutzung von Atomkraft.
3.5. Ein neuer Hybrid-Akteur entsteht
Der Willen der USA, Shibatas und Shōrikis, Atomkraft in Japan einzuführen musste auf irgendeine Weise auf das japanische Volk übersetzt werden. Dafür musste Atomkraft – einer der Haupt-Akteure in diesem Szenario – mit bestimmten Konzepten „angereichert“ oder „gewichtet“ werden.
Im ersten Schritt der Differenzierung wurde die Atomkraft in zwei Pole geteilt: einem positiven und einem negativen. D.h. es wurde eine Erzählung geschaffen, laut welcher es nicht mehr „die Atomkraft“ gibt, sondern nur eine der Menschheit schädliche und eine der Menschheit dienende. Damit wurde die Verantwortung über die Folgen der Kernspaltung in das Soziale verlegt, je nachdem, ob die Technologie in gute oder schlechte Hände geriete. Hier wurde auf sozialdeterministische Weise argumentiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. dem Pazifik-Krieg machte sich weltweit eine Friedensbewegung breit. Die Gräuel des Krieges sollten auf keinen Fall wiederholt werden, das Schlagwort der Zeit war „Frieden“. Wenn man „Frieden“ als einen Akteur betrachtet, der zusammen mit dem Akteur „Atomkraft“ einen neuen Aktanten in einem neuen atomkraftbegünstigenden Netzwerk bildet, kann man verstehen, wie geschickt die Atomkraftbefürworter auf den Zug der Zeit aufgesprungen sind, um der Atomkraft ein neues Image zu verleihen. Dies war das erste Handlungsprogramm der Pro-Atom-Liga: die Zusammenführung der Konzepte „Frieden“ und „Atomkraft“ (und im Gegenzug das Pendant „Atomkraft“ + „Krieg“ bzw. „Militär“). Ausgangspunkt hierfür war die „Atoms for Peace“-Rede von US-Präsident Eisenhower im Dezember 1953 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, einer internationalen Organisation, die erst vor Kurzem gegründet worden war, um den Frieden in der Welt dauerhaft zu sichern. Darin bekundete er sein Unbehagen über das Dilemma des atomaren Wettrüstens, welches im Fall eines Angriffs und des folgenden Rückschlags die gesamte Zivilisation zerstören könnte. Sein Gegenvorschlag ist, nicht nur Atomwaffen zu reduzieren und zu eliminieren, sondern Atome in friedlicher Weise zu nutzen:
“It is not enough to take this weapon out of the hands of the soldiers. It must be put into the hands of those who will know how to strip its military casing and adapt it to the arts of peace. The United States knows that if the fearful trend of atomic military buildup can be reversed, this greatest of destructive forces can be developed into a great boon, for the benefit of all mankind. […] Experts would be mobilized to apply atomic energy to the needs of agriculture, medicine, and other peaceful activities. A special purpose would be to provide abundant electrical energy in the power-starved areas of the world.”[xii]
Der Akteur Atomkraft wird in diesem Schritt mit dem Konzept des „Friedens“ beschwert, ähnlich wie der Schlüssel, der mit mündlichen Aufforderungen zur Rückgabe an der Rezeption gewichtet wurde. So entsteht aus den Konzepten „Frieden“ und „Atomkraft“ ein neuer Hybrid-Akteur, welcher in der Lage ist, den Willen der Pro-Atom-Liga zu übersetzen. Praktisch angewandt ist dieser Hybrid-Akteur das Atomkraftwerk. Dieses steckte in den 1940er und 50er Jahren noch in seiner Entwicklungsphase, Visionäre sahen in ihm jedoch die Erfüllung eines Menschheitstraums: Die Erzeugung von fast unendlichen Mengen Energie mit Einsatz wenigen Materials in einer Kettenreaktion – ein perpetuum mobile.
In einem zweiten Schritt der Gewichtung, welcher vor allem seit den 1970er Jahren implementiert wird, wurde der bereits entstandene Hybrid-Akteur Atomkraftwerk (in seiner Bedeutung als „Maschine für die friedliche Nutzung von Atomkraft“) mit weiteren Aussagen beschwert. Spätestens mit dem 1972 veröffentlichten Bericht des Club of Rome „The Limits to Growth“ wurde weltweit ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass die explosionsartig wachsende Weltbevölkerung in Bezug auf ihren Rohstoff- und Energieverbrauch, der Nahrungsmittelproduktion und der Umweltverschmutzung umdenken müsse, um nicht schon in 100 Jahren an die Grenzen des Wachstums auf der Erde zu stoßen, d.h. sich selbst aufzufressen. Dieses neue Umweltbewusstsein führte zu einer Umwertung aller Technologien in Bezug auf ihre Umweltverträglichkeit. Öl- und Gaskraftwerke verloren aus Sicht von Umweltverschmutzung und Ressourcenknappheit (letzteres verstärkt seit den Ölkrisen) ihr Prestige als leistungsfähige Stromerzeuger, alternative, erneuerbare Energien gewannen wieder Zuspruch und auch das Atomkraftwerk konnte sich profilieren, da es im Normalbetrieb keine Abgase in die Umwelt ablässt. Die Topoi „Sauberkeit“ und „Umweltverträglichkeit“ dienten (nicht erst seit den 1970ern) dem Atomkraftwerk als zusätzliche Gewichte, um den Willen der Befürworter für alle Beteiligten zu übersetzen.
Ähnlich wie beim Beispiel der Schusswaffe entstand hier im Zusammenspiel diverser Akteure ein neuer Hybrid-Akteur, welcher als Vermittlungsinstanz für den Willen der Pro-Atom-Liga agiert.
3.6. Die Handlungsprogramme der Pro-Atom-Liga
Nachdem die Atomkraftbefürworter in den USA gemeinsam mit ihren Kollegen auf der japanischen Seite ein Netzwerk der Pro-Atom-Liga gegründet hatten, musste diese noch die Anti-Atom-Liga überzeugen, um mit dem Bau der ersten AKW beginnen zu können (Problematisierung 2). Zu diesem Zweck mussten alte Netzwerke aufgelöst und neue Rollen definiert werden. Mit Eisenhowers „Atoms-for-Peace“-Rede wurde der Hybrid-Akteur der friedlichen Nutzung der Kernkraft geschaffen. Alle Staaten sollten ihre Uranvorkommen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) anvertrauen (Handlungsprogramm 1). Dies roch aber bereits damals als Vorwand für die geheime Fortführung der Forschung zur militärischen Nutzung. Die Bestätigung dafür kam bereits wenige Monate später, als durch den Zwischenfall „Glücklicher Drache V“ die geheimen Wasserstoffbombentests Operation Castle der USA enthüllt wurden. Die Ablehnung von Atomkraft wurde dadurch nur befeuert (Anti-Programm 1). Um dem entgegenzuwirken, mussten sich die USA von der Schuld für die erneute Verstrahlungskatastrophe reinwaschen: umherfliegende Korallen wurden für die Verstrahlung verantwortlich gemacht. Als auch dies nichts half, blieb nur die Möglichkeit, den Verstrahlungsopfern eine Entschädigung zu zahlen (Handlungsprogramm 2):
„Am 4. Januar [1955] wurde der Vorfall „Glücklicher Drache V“ durch Entschädigungsleistungen über 20 Millionen Dollar seitens US-Regierung an die Japaner zu einem Abschluss gebracht. Dies stellte eine politische Beilegung des Problems unter der Bedingung dar, dass nach der rechtlichen Verantwortung der USA nicht mehr gefragt wurde.“ (Anhang 1: viii)
Es führte allerdings auch zu Protesten gegen die Verantwortungslosigkeit der USA und der eigenen amerika-freundlichen Regierung durch linke Kräfte. Als die Asahi-Shinbun im April 1955 „die Vertuschung des Außenministeriums bezüglich des Angebots von Lieferungen von angereichertem Uran aus den USA“ enthüllte, „spaltete sich die Debatte hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Annahme in zwei Lager auf“ (Anti-Programm 2). (ebd.)
Das dritte und umfangreichste Handlungsprogramm der Pro-Liga zielte darauf ab, die kritischen Stimmen mundtot zu machen. Auch im japanischen Wissenschaftsrat gab es zahlreiche Wissenschaftler, welche gegen die Annahme des Atomabkommens waren, so etwa aus Angst vor „der Einverleibung Japans in den US-amerikanischen Militärblock durch die Atomenergie“ (ebd.).[xiii] Sie „forderten hartnäckig eine selbstbestimmte Entwicklung Japans“ (ebd.). Shibata untersuchte daraufhin, welche Wissenschaftler zur KP tendierten, um gezielt politischen Druck auf sie ausüben zu können. Shōriki ließ sich zwischenzeitlich ins Abgeordnetenhaus wählen und versprach, Japans wirtschaftliche und politische Stabilisierung voranzutreiben. Er verband dies mit der friedlichen Nutzung von Kernkraft. Mit der Verknüpfung von Wohlstand und Kernkraft konnte er einige kritische Stimmen schwächen und Wähler gewinnen; seine politische Macht brachte ihm Entscheidungsgewalt und Durchsetzungsvermögen. Um die Befürworter zu vermehren, berief er eine Konferenz für die friedliche Nutzung der Atomenergie ein, in welcher er wichtige Vertreter der Finanz-, Politik- und Wissenschaftswelt versammelte. Diese opinion leaders sollten ihm helfen, eine breite Akzeptanz der Atomkraft auch in der Bevölkerung zu erreichen:
„Shōriki begann unverzüglich die Finanzwelt zu bearbeiten und gründete den ‚Rat für die friedliche Nutzung der Atomenergie‘, in dem er selbst einen repräsentativen Akteursposten einnahm (28.4.1955). Ganz oben auf der Teilnehmerliste stand der Präsident der Keidanren Ishikawa Ichirō, neben dem sich die wichtigsten Mitglieder der Schwerindustrie, der Stromkonzerne und der Finanzwelt versammelten. Auch aus dem Wissenschaftsrat konnte er Wissenschaftler, die der Einführung der Atomkraft gegenüber positiv eingestellt waren, versammeln, und bereitete den Empfang der Friedensmission vor. […] Shōriki nutzte die von den USA zur Verfügung gestellten Daten, um die Finanzwelt davon zu überzeugen, dass Atomenergie wirtschaftlicher als Wasserkraft und Kohleenergie sei.“ (Anhang 1: ix)
Kurze Zeit später traf auch die „Zivile Mission der friedlichen Nutzung von Kernenergie“, bestehend aus John J. Hopkins, Ernest Lawrence und Lawrence Hafstead, auf Einladung des Verlags der Yomiuri-Shinbun in Japan ein. Mit der Propaganda-Veranstaltung in Hibiya am 13. Mai und deren Live-Übertragung im neuen Medium Fernsehen wurden die positiven Seiten der Atomenergie gezeigt und Zukunftsvisionen von atombetriebenen Flugzeugen und Schiffen gezeichnet. Damit wandelte sich die allgemeine Atom-Skepsis bei vielen Menschen in Neugier, Interesse und sogar Befürwortung um. Auch die Untersuchungsgruppe für die Vorbereitung der Nutzung der Atomenergie innerhalb der Regierung entschied sich in ihrer Sitzung für die Unterzeichnung des Atomabkommens. Dieses wurde am 21.6.1955 in Washington unterzeichnet (Anhang 1: x). Noch im selben Jahr begann die aktive Erforschung der Kernenergie in Tōkaimura mit einem Forschungskraftwerk. 1957 erreichte dieses erstmals den kritischen Punkt. Im Jahr 1966 konnte dort dann das erste kommerzielle Kernkraftwerk Asiens in Betrieb gehen.
Auf das dritte Handlungsprogramm folgte bestenfalls ein sehr kleines Anti-Programm. Im Ergebnis war die Abneigung der Japaner gegen Atomkraft in eine Abneigung gegen Kommunisten als Gegner der fortschrittsorientierten, atomkraftbefürwortenden Regierung umgemünzt worden. Dem Wunsch nach wirtschaftlicher und politischer Stabilisierung wurde mit den Heilsversprechen der atomaren Energieerzeugung nachgekommen, die Argumente dafür von den USA bezogen. Der Willen der Pro-Atom-Liga, Atomkraft in Japan einzuführen wurde in den Willen der Bevölkerung, Atomkraft zu unterstützen übersetzt. Atomkraftgegner wurden in diesem Übersetzungsprozess systematisch aus der Elite ausgeschlossen, die Bevölkerung beargwöhnt diese noch heute. Der renommierte Philosoph Mishima Kenichi äußert sich in der ZEIT vom 05.05.2011 über die Konsequenzen dieser ideologischen Aushandlungen in der Nachkriegszeit:
„Nicht nur haben die Wissenschaftler auf einflussreichen Lehrstühlen an renommierten Universitäten, die in den wichtigen Gremien sitzen, erwähnte kritische Stimmen von Fachkollegen in den Wind geschlagen. Sie haben die jüngeren Kollegen, die gegen Einzelteile von AKWs oder überhaupt gegen AKWs Bedenken äußerten, systematisch marginalisiert. Viele von diesen, die sich jetzt per Internet mit ihren alten Untersuchungen gegen die Atomkraft melden, sitzen mit 60 immer noch auf einer Assistentenstelle.“ (Mishima 2011)
Weiterhin beschreibt er, wie die kritischen Stimmen zwar nicht verstummten, aber bis heute kaum in der breiten Bevölkerung Resonanz finden und so auf sich selbst zusammenschrumpfen. Argumente gegen Atomkraft vorzutragen hat in Japan das negative Image eines „Spalters“, Querschlägers oder sogar Delinquenten:
„Der Effekt war hier in Japan die Bildung einer Art Anti-Club. Die Mitglieder treffen sich und feiern im Schulterschluss gegenseitig ihre Anti-Mentalität. Diesem Club steht ein gewaltiges Konglomerat von Atomindustrie, Wissenschaft, Politik und Gewerkschaft gegenüber. Das Konglomerat nennt sich kokett Atomdorf. Der Club der Gegner hat gegen das Dorf keine Chance. Während sowohl Holger Strohm als auch Klaus Traube mit dem Verdienstorden beziehungsweise dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurden, denkt unser Staat nicht daran, die ewigen Protestler, unangenehme Sandkörner im Getriebe, mit Orden zu ehren. Sie sind für den Staat bedauerliche, entgleiste Existenzen.“ (ebd.)
3.7. Elektrizität im Übermaß – die Erfindung des mittelständischen Konsumenten
Ein effizientes Mittel, um den Willen der Einführung von Atomkraft für die Bevölkerung zu übersetzen, ist es, die Vorteile von großen Energiemengen für sie nutzbar und unentbehrlich zu machen und ihren Wunsch nach Stromverbrauch zu fördern. Eine weitere Vermittlungsinstanz kommt hier ins Spiel: das Enrolment der Bevölkerung als Konsumenten. Die Schaffung einer (Massen-)Konsumkultur würde nicht nur steigende Absatzzahlen in der heimischen Elektronikindustrie begünstigen, sondern auch die Einführung einer effizienten Stromerzeugungstechnologie wie der Kernenergie geradezu zwingend erforderlich machen.
Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre kam ein neuer Begriff in Japan in Mode: „das helle/fröhliche Leben“ (akarui seikatsu, 明るい生活). Alles, wonach man im Alltag strebte, sollte im Gegensatz zur dunklen und kalten Kriegsepoche hell, freundlich und fröhlich (also: akarui) sein. Der Begriff akarui tauchte in dieser Zeit in vielen Werbekampagnen von Elektronikproduzenten auf, so zunächst bei Herstellern von Leuchtstoffröhren, welche im wahrsten Sinne des Wortes Licht in japanische Häuser brachten und damit mehr Leuchtkraft als die bisher üblichen Glühlampen versprachen. (Partner 1999: 149) Auch Matsushita, der Hersteller der „National“-Produkte (in Deutschland bekannt als „Panasonic“), sprang auf diese Welle auf und führte im Jahr 1955 den Slogan akarui nashonaru (engl.: Bright National) ein. Noch heute firmiert dieser Slogan im kollektiven Gedächtnis vieler Japaner über die Zeit zwischen 1955-1965. (ebd.) Doch der Begriff akarui seikatsu hat weitaus mehr Bedeutungszuweisungen im übertragenden Sinne. Nicht nur Elektronikproduzenten bedienten sich dieses Bildes, sondern auch in der Bevölkerung und in der Politik war die Überzeugung verbreitet, dass man zu einem neuen Lebensstil (shin seikatsu, 新生活) finden müsse. (Partner 1999: 145) Die Auslegungen dieses neuen Lebensstils unterschieden sich jedoch von Person zu Person, von Institution zu Institution: für die einen bedeutete er Sparsamkeit und Ehrlichkeit, für andere Produktivitäts- und Qualitätssteigerung in der Produktion. Wieder andere verstanden darunter ganz praktische Anwendungen nach dem Vorbild Chiang Kai Sheks in China, welcher die ärmlichen Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung verbessern wollte, indem bspw. gegen Fliegen und Mücken gespritzt wurde. (Partner 1999: 145f) In Japan gab es infolgedessen ebenso pragmatische Vorschläge wie die Beseitigung von Bettlern aus dem Ueno-Park und Asakusa und die Unterstützung bei der Arbeitssuche, ebenso die Beseitigung von Streunern aus den Städten oder das Verbot von Dauerwellen für Frauen. (Partner 1999: 147) Diese Vorschläge wurden von Bürgern bei der Vereinigung der Bewegung für einen Neuen Lebensstil (shin seikatsu undō kyōkai, 新生活運動協会) eingereicht, welche in Folge von Premierminister Hatoyamas Wahlversprechen eines „hellen/fröhlichen Japan“ (akarui nihon, 明るい日本) im Jahr 1955 mit eigens dafür bereitgestellten Regierungsgeldern gegründet wurde. (ebd.)
Seine Ursprünge findet das Konzept akarui seikatsu in Bewegungen aus den 1920er und 1930er Jahren, die sich für eine Verbesserung des Lebensstils (seikatsu kaizen, 生活改善), eine Rationalisierung des Alltags (seikatsu no gōrika, 生活の合理化) oder einen kulturellen Lebensstil (bunka seikatsu, 文化生活) in Anlehnung an westliche Vorbilder (v.a. USA und Deutschland) einsetzten. Der Begriff der Rationalisierung spielt auch nach dem Krieg weiterhin eine bedeutende Rolle, wurde aber ebenso vielfältig interpretiert, wie akarui seikatsu selbst. Er wird weithin mit Modernisierung im Weberschen Sinne, einer Orientierung an westlichen Standards und der Abkehr von feudalen Gebräuchen verbunden. (Partner 1999: 150) Ebenso implizierte dieser Begriff für die Einen die Reduzierung von Extravaganz zu Gunsten von Sparsamkeit, für Andere aber die Umstrukturierung des Haushalts mit Elektrogeräten, welche für eine wissenschaftlich-rationale Herangehensweise an Orte bis hin zum privaten Ort des Zuhauses – wieder nach dem Vorbild westlicher Gesellschaften – stand. (ebd.)
Eine grundlegende Assoziation, welche mit akarui seikatsu verbunden wird, ist neben dem „modernen“, „rationalisierten“ Heim mit zeiteffizienten und unterhaltsamen Elektrogeräten das Vorbild einer ebenso „modernen“ und „rationalisierten“ mittelständischen Kernfamilie, bestehend aus einem arbeitenden Familienvater und Versorger und einer sich um die Kinder und den Haushalt kümmernden Hausfrau. Diese Familienform orientiert sich am Vorbild der amerikanischen Kernfamilie, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts propagiert worden war und in den 1950ern verstärkt ins Zentrum der Werbung rückte. (Partner 1999: 150f) Werbung hatte damals noch vorrangig das Ziel, die Verbraucher vom Nutzen eines Produkts zu überzeugen und über dessen Funktionsweise aufzuklären. Hierzu transportierte sie gleichzeitig das Bild des Lebensstils, der für einen schlagenden Absatz notwendig war: da in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem Elektrogeräte beworben wurden, musste der dazugehörige Lebensstil der Kernfamilie mit der Hausfrau im Zentrum gleich mit popularisiert werden. In Japan fand dieser Ansatz in der Nachkriegszeit großen Anklang und alle Firmen begannen die Medien exzessiv zu nutzen, um ihre Produkte an die Frau zu bringen. Die Ausgaben für Werbemaßnahmen in Firmen wie Matsushita vervielfachten sich am Ende der 1950er. (Partner 1999: 155)
Die neuen Produkte waren neben Leuchtstoffröhren zunächst Ventilatoren, Waschmaschinen, Kühlschränke und Fernseher. Da die Verbraucher in den 1950ern noch überwiegend sehr arm waren und gerade einmal Geld für das Nötigste hatten, war für die Firmen viel Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit durch diverse Werbemaßnahmen[xiv] nötig, um ihre Produkte zu verkaufen. In der folgenden Dekade wurde dadurch bewirkt, dass der Konsum sich wandelte: die Verbraucher kauften nicht mehr nur Dinge, die sie zum Überleben brauchten, sondern zusätzlich Güter, welche ihr Leben erleichterten oder unterhaltsamer machten. Dies wird vor allem am Beispiel des Fernsehers deutlich, der zu dieser Zeit fast so teuer wie ein Haus sein konnte – 1955 kostete ein Fernseher ca. ¥140.000, ein bescheidenes Haus mit Grundstück in einer der sechs größten Städte Japans konnte für ¥200.000 erstanden werden (Partner 1999: 165) – und trotzdem entschieden sich manche Familien, ihr Erspartes in ein Fernsehgerät statt in ein Haus zu investieren. Im Jahr 1960 besaßen bereits 9 Mio. japanische Haushalte bzw. 55% der urbanen Bevölkerung ein Fernsehgerät (Partner 1999: 162, 140). Immerhin konnte man damit Sportwettkämpfe, für welche man sonst eine teure Eintrittskarte hätte kaufen müssen, kostenlos ansehen, was Simon Partner (1999: 162-166) für den Durchbruch des Fernsehens verantwortlich macht.
Die Beliebtheit der drei Elektrogeräte Waschmaschine, Kühlschrank und Fernseher war bis zur Mitte der Fünfzigerjahre dermaßen gestiegen, dass man sie sogar als die „Neuen drei heiligen Reichsinsignien“ (shin sanshu no jingi, 新三種の神器)[xv] bezeichnete. Gegen Ende der 1960er Jahre, als der Markt für diese Geräte bereits fast gesättigt war, kamen drei neue Elektrogeräte zu der Ehre, als „Neue Reichsinsignien“ bezeichnet zu werden und von allen Japanern besessen werden zu müssen: das Automobil, die Klimaanlage und der Farbfernseher. (Yoshimi 2001: 108) Diese sind auch nach ihren englischen Bezeichnungen als die „Drei Cs“ bekannt: car, cooler, color television. In den 1980ern kamen schließlich die „Drei Js“ hinzu: jewels, jet travel, und jūtaku (住宅, ein Eigenheim). (Partner 1999: 138) Auf diese Weise wurden nicht nur die Produkte geschaffen, sondern im Gleichschritt auch der dazugehörige Markt. Der Besitz dieser Produkte machte einen Haushalt erst zu einer mittelständischen (Kern-)Familie – die immer neuen gesättigten Märkte für Elektrogeräte perpetuierten den Mythos der Mittelstandgesellschaft.
Mit dem Kauf von immer neuen und immer mehr Elektrogeräten stieg auch der Stromverbrauch. Das Wirtschaftswachstum der 1950er bis in die 1960er hinein wird im Allgemeinen dem hohen Inlandsumsatz zugeschrieben. Erst nachdem sich die Firmen im eigenen Land erprobt hatten, wurde Japan zu einer Exportnation. (Partner 1999: 140)
Die Elektronikindustrie wollte ihre Produkte in alle japanischen Haushalte bringen (Problematisierung) und musste dieses Ziel der Bevölkerung näherbringen. Hierzu wurde mittels Werbung ein neuer japanischer Konsument erschaffen, welcher das Vorbild der mittelständischen Kernfamilie erfüllen sollte. Die Bevölkerung nahm diese Rolle mit steigender Kaufkraft bereitwillig an (Interessement) und kaufte die angebotenen Produkte für eine Verbesserung des Lebensstils unter dem Slogan eines „hellen, fröhlichen, neuen Lebens“ (Enrolment). Der Wunsch der Produzenten nach Profitmaximierung wurde hier mit Hilfe von Elektrogeräten, welche zusammen mit den aus dem Westen importierten Werbebotschaften einen neuen Hybrid-Akteur bilden, für die neu erschaffenen Akteure der mittelständischen Konsumenten in den Wunsch übersetzt, den Vorbildern aus der Werbung zu folgen. Da Akteur-Netzwerke eine fraktale Struktur besitzen, können wir aus diesem neu geschaffenen Netzwerk herauszoomen und dabei das größere Netzwerk der Stromproduzenten erkennen, für welche die Elektronikindustrie ein willkommener Vermittler/Delegierter ist, um Stromerzeugung mittels Atomkraft zu rechtfertigen. Innerhalb dieses Prozesses wird der Wunsch der Atomlobby für die Elektroindustrie übersetzt in den Wunsch, ihre Geräte in einem Massenmarkt zu verkaufen, und dieser Wunsch wiederum übersetzt in den Wunsch der Konsumenten, die Geräte zu besitzen und damit einen neuen, demokratischen – was auch immer dies bedeuten mag – Lebensstil zu führen. Im folgenden Schaubild wird versucht, die fraktale Struktur dieser Netzwerke anschaulich darzustellen:
Abbildung 3: Die fraktale Struktur von Netzwerken. Die runden Umrandungen weisen auf Netzwerke hin, die grün unterlegten Begriffe stellen Hybrid-Akteure dar. Da jeder Hybrid-Akteur auch ein Netzwerk ist, kann man in jedes Netzwerk und jeden Akteur beliebig oft hineinzoomen und kleinere Netzwerke erkennen.
Daneben erfüllt die Erfindung der mittelständischen Konsumenten eine weitere Funktion: die Ablenkung des Interesses von politischen und gesellschaftlichen Grundsatzfragen hin zu entpolitisierten Menschen, deren Gedanken hauptsächlich um die Erfüllung der Konsumbedürfnisse in Heim und Familie kreisen.
Auch wenn dieses Thema offen auf der Hand liegt, soll hier noch einmal aus AN-Theoretischer Sicht aufgezeigt werden, welche Probleme der Hybrid-Akteur Atomkraftwerk mit sich bringt. Die Gewichtung von Atomkraft mit den Topoi „Frieden“, „Sauberkeit“/ “Umweltschutz“ und (später) „Sicherheit“ gepaart mit dem Ausschalten der Gegner und dem Finden neuer Befürworter, welche das Programm zusätzlich gewichten, dient nur so lange der Vorbeugung eines Anti-Programms, wie alle einzelnen Gewichtungsprogramme akkumuliert und deren Abfolge konstant erhalten wird (Latour 2006: 375). Reduziert man das Gesamtprogramm nur um ein Element, verliert man auch wieder einen Teil der Befürworter, verliert die Aussage sozusagen an Gewicht (s. Abbildung 2).
Die Argumentation der Pro-Liga bröckelt mit jedem gemeldeten Störfall. Spätestens mit dem Kernschmelzunfall im Kernkraftwerk Three Mile Island im amerikanischen Pennsylvania am 28. März 1979 erwies sich, dass die Topoi Frieden, Sauberkeit und Sicherheit erfunden sind.[xvi] Im schlimmsten Fall werden umliegende Gebiete großflächig kontaminiert, sodass Lebewesen dort gesundheitlich beeinträchtigt werden oder gar sterben. Diese Topoi können in solchen Situationen ihre Funktion des Gewichts nicht mehr erfüllen. Sobald der Aktant AKW von seinem Enrolment „Maschine zur friedlichen, sauberen und effizienten Erzeugung von Energie und damit Wohlstand“ abweicht und stattdessen die Menschen in ihrer Existenz bedroht, kehren zahlreiche Personen der Pro-Liga wieder den Rücken. Einige bleiben natürlich auch. Im Störfall hat ein AKW ähnliche negative Auswirkungen auf die Menschheit wie die Atombombe; die Differenzierung in friedliche und militärische Nutzung fällt wieder zusammen, es gibt nur noch eine Atomkraft und diese ist negativ konnotiert. Die Folge solcher Störfälle sind oft Proteste und Demonstrationen, die wie im Fall Deutschlands im Juni 2011 sogar zum Beschluss eines kompletten Atomausstiegs führen können. Ein einziger schwerer Störfall kann bewirken, dass die Handlungsprogramme der Pro-Liga zusammenbrechen, dass die Differenzierung und Gewichtung der Atomkraft nur noch als leere Hülsen zurückbleiben.
In der vorliegenden Arbeit wurde mit Hilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie gezeigt, wie Atomkraft in Japan trotz ihrer nachweislichen Bedrohung für die Menschheit als Stromerzeugungsmethode eingeführt und akzeptiert wurde. Zahlreiche menschliche und nicht-menschliche Aktanten sind dafür in eine Interaktion und damit in ein gemeinsames Netzwerk getreten, um die Einführung der neuen Technologie durchzusetzen. So ist eine Kette von Aktanten entstanden, bei der die fraktale Struktur des Netzwerks sichtbar wird. Man kann in das Gesamtnetzwerk hereinzoomen und auf zahlreiche Einzelnetzwerke schauen, bis hin zu den kleinsten, den Hybrid-Akteuren.
Nachdem die USA beschlossen hatten, die Kernforschung weiterzuführen und sich im Kalten Krieg eine Übermacht zu erarbeiten, suchten sie nach Verbündeten auf der ganzen Welt. In Japan, dessen Besatzer sie gerade vor kurzem gewesen waren und wo sie weiterhin einen großen Einfluss ausübten, fanden sie Gleichgesinnte und gründeten eine Pro-Atom-Liga. Sie differenzierten die Atomkraft in einen guten und einen schlechten Strang und etablierten damit die Vorstellung, dass die gute Art der Atomkraft den Menschen sogar nützlich sein kann. Hierzu bündelten sie das Konzept des Friedens mit der Atomkraft und erschufen „Atoms for Peace“. Der neu entstandene Hybrid-Akteur Atomkraftwerk als Ausdruck für die friedliche Nutzung der Kernkraft wurde daraufhin mit den Topoi Sauberkeit und Umweltverträglichkeit gewichtet. In der zweiten Phase versuchte die Pro-Atom-Liga in Japan die Anti-Liga von ihrem Willen zu überzeugen. Die Handlungsprogramme der Befürworter sollten die Gegner ausschalten und eine breite Akzeptanz des friedlichen Atoms schaffen. Hierzu wurden die verstrahlten Fischer von den USA entschädigt, Lobby-Arbeit geleistet, die Finanz-, Politik- und Wissenschaftswelt in Konferenzen überzeugt und die Öffentlichkeit mit Hilfe von Propaganda-Großveranstaltungen und Medienarbeit bearbeitet. In einem letzten und ultimativen Schritt wurde ein neuer mittelständischer Konsument geschaffen, der in einem neuen, hellen, demokratischen, rationalisierten Japan einem bestimmten Rollenmodell folgen sollte. Die Elektronikindustrie diente hier als Vermittlungsinstanz im Übersetzungsprozess zwischen (Atom-)Stromerzeugern und Verbrauchern. Sobald alle japanischen Haushalte mit „unverzichtbaren“ Technikgeräten versorgt waren, stieg der Stromverbrauch um ein Vielfaches und wurde Stromerzeugung im Überfluss unabdingbar. So entstand der Mythos, Japan könne ohne den günstigen und effizienten Atomstrom überhaupt nicht sein.
Allerdings birgt die Stromerzeugung mittels Kernkraft auch gigantische Risiken, welche nicht nur die Angestellten in Atomkraftwerken sondern auch die umliegende Bevölkerung bis hin zu sehr weit entfernten Siedlungen gefährdet, wie die Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 gezeigt hat. In den vergangenen Kapiteln wurde gezeigt, wie die Hektik der Befürworter der ersten Stunde und deren Streben nach Macht einen Prozess in Gang gesetzt haben, welcher Japan auf einen geschichtlich inkohärenten und sozial gefährdenden Pfad gebracht hat. Dass Japan durch die Einführung der Kernkraft einen noch nie gekannten Wirtschaftsaufschwung genoss, ist zwar ein nicht von der Hand zu weisendes Faktum, muss aber im Lichte der negativen Konsequenzen für Mensch und Umwelt neu betrachtet werden.
Aufsätze
Belliger, Andréa; Krieger, David J. (2006): Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: Transcript, S. 13–50.
Callon, Michel (2006): Die Soziologie eines Akteur-Netzwerkes: Der Fall des Elektro-Fahrzeugs. In: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: Transcript, S. 175–194.
Horvat, Andrew (2011): How American Nuclear Reactors Failed Japan. In: Jeff Kingston (Hg.): Tsunami. Japan's Post-Fukushima Future. [Foreign Policy Journal]. Washington: Slate Group, S. 195–203.
Khong, Lynnette (2003): Actants and enframing: Heidegger and Latour on technology. In: Studies In History and Philosophy of Science Part A 34 (4), S. 693–704.
Latour, Bruno (2006): Technik ist stabilisierte Gesellschaft. In: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: Transcript, S. 369–398.
Yoshimi, Shunya (2001): "Made in Japan": The Cultural Politics of "Home Electrification" in Postwar Japan. In: Steffi Richter und Annette Schad-Seifert (Hg.): Cultural studies and Japan. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 103–119.
Smits, Gregory (2011): Building on Fault Lines. In: Jeff Kingston (Hg.): Tsunami. Japan's Post-Fukushima Future. [Foreign Policy Journal]. Washington: Slate Group, S. 67–89.
Monographien
Gordon, Andrew (2003): A modern history of Japan. From Tokugawa times to the present. Oxford [u.a.]: Oxford University Press.
Hacker, Barton C. (1994): Elements of controversy. The Atomic Energy Commission and radiation safety in nuclear weapons testing, 1947-1974. Berkeley: University of California Press.
Partner, Simon (1999): Assembled in Japan. Electrical goods and the making of the Japanese consumer. Berkeley: University of California Press.
Radio- oder Fernsehsendung
Geier, Stefan (2011): Von Becquerel bis Fukushima – Eine Geschichte der Atomkraft (radioWissen). Bayern 2, 18.04.2011. Online verfügbar unter http://www.podcast.de/episode/2143669/Von_Becquerel_bis_Fukushima_-_Eine_Geschichte_der_Atomkraft_-_18.04.2011/.
Zeitungsartikel
Mishima, Kenichi (2011): Des Pudels Kern. In: Die Zeit, 05.05.2011 (19), S. 54. Online verfügbar unter http://www.zeit.de/2011/19/Japan.
Sugita, Hiroki (2007): Postwar Propaganda Campaign: USIS role revealed in Japan's tilt toward West. In: The Japan Times Online, 21.11.2007. Online verfügbar unter http://search.japantimes.co.jp/print/nn20071121f1.html, zuletzt geprüft am 01.08.2011.
[i] Vgl. das homöopathische Ähnlichkeitsprinzip nach Samuel Hahnemann: „Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden“ (similia similibus curentur)
[ii] Die amerikanischen Besatzer suchten Japan ebenso wie Deutschland von den Ideologien vor und während der Kriegszeit zu befreien, indem sie Kriegsverbrecher vor ein internationales Tribunal führten und z.T. exekutieren ließen, ehemalige Führungskräfte entließen und verurteilten sowie die Ausbildung einer neuen Kultur und Moral anstrebten. Sie setzten eine neue Verfassung auf, in welcher sie aus ihrer Sicht grundlegende demokratische Werte und Menschenrechte verankerten, den Kaiser seiner göttlichen Stellung enthoben und den Shintō als Staatsreligion abschafften. Bemerkenswert ist vor allem der berühmte Artikel 9, in welchem Japan der Aufbau einer militärischen Streitkraft versagt wird (allerdings wurde in den folgenden Jahren trotzdem eine Streitkraft zu Selbstverteidigungszwecken, die Jieitai (自衛隊), errichtet). (Gordon 2003: 229-231)
[iii] Im Folgenden werden japanische Namen, wie im Japanischen üblich, mit dem Nachnamen zuerst angegeben.
[iv] So wurden beispielsweise alle Mitglieder des Zentralkomitees der KP sowie 17 Mitglieder der Redaktion des Parteiblattes entlassen. Mitglieder der KP wurden aus dem Rundfunk, dem Zeitungs-, Kommunikationswesen und der Filmindustrie sowie der Kohle- und Stahlproduktion ausgeschlossen. Insgesamt verloren 1.177 Lehrer und Regierungsbeamte sowie 10.972 Mitarbeiter anderer Industrien ihre Arbeit. (Partner 1999: 80f)
[v] Jap.: shi no hai, 死の灰 (Anm. DM)
[vi] Der Name Nihon-TV (日本テレビ) steht für die Gesellschaft Nippon Terebi Hōsōmō (日本テレビ放送網), auf Englisch: Nippon Television Network Corporation. Der Sender erscheint im Fernsehen unter dem Logo Nittere (日テレ).
[vii] Eine Verbindung Daniel Watsons zum Operations Coordinating Board (OCB, ein Exekutiv-Gremium, das 1953 von Präsident Eisenhower gegründet und bereits 1961 von Präsident Kennedy abgeschafft wurde, Berichterstattung an das National Security Council) bzw. dem National Security Council selbst (NSC, Nationaler Sicherheitsrat der USA, berät über die äußere Sicherheit der USA, Vorsitzender ist der Präsident) wird aber stark angenommen. (Anhang 1: iv)
[viii] Die Mission wurde von Shōriki Matsutarō koordiniert und finanziert. (vgl. Parrish, Will: „Nuclear Chickens”, in: The Anderson Valley Advertiser Online (16.03.2011), URL: http://theava.com/archives/10382, letzter Zugriff: 05.08.2011)
[ix] Unter dem Titel „Endlich haben wir die Sonne eingefangen“ wurde eine ganze Artikelserie zur friedlichen Nutzung der Kernkraft gestartet. (vgl. http://www.shikagen.net/shikagen/shouriki/shouriki.htm und Arima, Tetsuo (2008): Genpatsu. Shōriki. CIA. Kimitsu bunsho de yomu Shōwa no rimenshi. [AKW. Shōriki. CIA. Die Kehrseite der Shōwa-Geschichte mit Geheimdokumenten gelesen.] Shinchōsha, Tōkyō.)
[x] Die offizielle Unterzeichnung fand erst im November 1955 statt.
[xi] Vgl. „Geheime Abkommen zwischen Japan und USA“: http://www.welt.de/politik/ausland/article6699917/Geheime-Atomabkommen-zwischen-Japan-und-USA.html, letzter Zugriff: 15.08.2011.
[xii] Vgl. „Atoms for Peace“, online: http://www.iaea.org/About/history_speech.html, letzter Zugriff 16.08.2011
[xiii] So hatte sich Japans bis dato einziger Physiknobelpreisträger Yukawa Hideki von Anfang an gegen das Atomprogramm gestellt. Nach der Ankündigung Shōrikis AKW in Japan bauen zu wollen, drohte er mit seiner Amtsniederlegung. Auf den Druck hin, der Rücktritt des prominentesten japanischen Wissenschaftlers just zu diesem Zeitpunkt würde nur negative Schlagzeilen bringen, blieb er noch ein Jahr im Amt, bevor er aus „gesundheitlichen Gründen“ zurücktrat. (Horvat 2011: 197)
[xiv] Für ausführliche Informationen über Inhalt und Mittel der Werbung vgl. Partner 1999.
[xv] Die „drei heiligen Reichsinsignien“ sanshu no jingi (三種の神器) bezeichnen die Reichsinsignien des Kaisers (Schwert, Spiegel und Krummjuwelen), welche laut mythischer Überlieferung seinen Vorfahren direkt von dem Göttern übergeben worden waren und ihn als rechtmäßigen Thronfolger legitimieren. Noch vor dem Krieg wäre eine solche Nutzung des Begriffs als Blasphemie geahndet worden.
[xvi] Dass diese Topoi an atomstromproduzierenden Standorten über längere Zeit hinweg aufrechterhalten werden können, zeugt von einem methodologischen Nationalismus, innerhalb dessen die Nation als Grundeinheit sozialwissenschaftlicher und politischer Analyse gilt und jenseits des Nationalstaates angesiedelte Institutionen oder Probleme ausgeblendet werden. Da innerhalb Japans selbst kein Uran abgebaut wird, kann z.B. der Topos der Sauberkeit aufrechterhalten werden, da man die vergifteten Arbeiter in Uranbergwerken in anderen Ländern der Welt ausblendet. (Dank für diesen Hinweis an Prof. Dr. Steffi Richter)