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http://www.kojinkaratani.com/jp/essay/post-64.html (Homepage von Karatani)

 

Interview der Wochenzeitschrift „Shūkan dokushojin“ (Ausgabe 17. Juni 2011) mit Karatani Kōjin

übersetzt von: Steffi Richter (Universität Leipzig)


Die Anti-AKW-Demonstrationen verändern Japan

Drei Monate sind an diesem 11. Juni seit der Erdbebenkatastrophe vom 11.März in Ost-Japan vergangen. Anläßlich der Havarie im AKW Fukushima 1 unmittelbar nach dem Erdbeben finden nicht nur in Japan selbst, sondern auch im Ausland permanent „Anti-AKW-/Ausstieg aus der Kernkraft-Demonstrationen“ statt. Auch in Tokyo: am 10. April die Demo in Kōenji, am 24.April die Parade durch den Yoyogi-Park und die Demo im Shiba-Park, am 7.Mai die Demo vor dem Stadtbezirksrathaus von Shibuya und auf der Omote-sandō-Allee; und nun, am 11.Juni, finden landesweit große Demonstrationen statt. Ins Auge fällt, dass auch Intellektuelle – Schriftsteller und Kritiker – teilnehmen. 50 Jahre nach den Demonstrationen im Kampf gegen den Japanisch-Amerikanischen Sicherheitsvertrag von 1960 nahm auch der Kritiker Karatani Kōjin (KK) erstmals wieder an einer Demonstration – der im Shiba-Park – teil. Welche Richtung werden diese Aktivitäten einschlagen, wird es tatsächlich möglich, die Atomkraft abzuschaffen? Karatani Kōjin ist Mitautor des Sammelbandes „Was sollen wir in der Erdbebenkatastrophe tun?“ (Hrsg. Uchihashi Katsuto, Iwanami-Verlag, erschienen am 21.Juni 2011). Wir (R) haben ihn dazu befragt (Redaktion von „Shūkan dokushojin“).

 

Kapital-Staat als Stützen der Atomkraft

KK: Folgende Bemerkung gleich zu Beginn: Es gibt da etwas, was die Japaner vergessen haben, seit sich das Erdbeben, die AKW-Katastrophe ereignet haben. Worüber wurde denn bis zum März debattiert? Über Dinge wie den Lehman-Schock, über den kaum vermeidbaren Niedergang der japanischen Ökonomie aufgrund der sinkenden Geburtsrate und alternden Gesellschaft, oder wie man in einer Gesellschaft mit niedrigem Wachstum leben soll. Dass es mit der japanischen Wirtschaft nicht gut aussieht, liegt ja aber nicht am Erdbeben. Über kurz oder lang kommt zweifellos eine Weltwirtschaftskrise. Und dennoch gibt es Leute, die vom „Wiederauferstehen und Chancen für das Geschäft nach dem Erdbeben“ reden. Oder vom „Übergang hin zu natürlichen Energieressourcen“. Ein solches Denken geht von der Prämisse aus, auch künftig am Wirtschaftswachstum und an der Konkurrenz im Rahmen des Kapitalismus festzuhalten. Doch lassen die, die so reden, völlig außer Acht, was sie noch vor kurzem so gefürchtet haben. Der Zusammenbruch der Weltwirtschaft rückt näher, er wird ohne Zweifel kommen.

Tendenziell hatte es in Japan, nunmehr eine Gesellschaft mit niedrigem Wachstum, bereits Anzeichen gegeben, den Kapitalismus überwinden zu wollen. Doch mit dem Erdbeben und dem Atomunfall haben die Japaner das vergessen – sie scheinen geradezu zu glauben, ökonomisches Wachstum sei nun wieder möglich. Deshalb brauche man die Atomkraft ja doch, bzw. wolle man zu natürlichen Energieressourcen übergehen. Es geht ja aber eigentlich darum, den Energieverbrauch zu reduzieren. Und durch den Atomunfall haben sich die Chancen, dies umzusetzen, erhöht, doch sie denken nicht daran. Nach wie vor wird am Keynesianismus festgehalten: überflüssiges Zeug herstellen, konsumieren und so mehr Arbeit schaffen zu wollen. Nach dem Erdbeben ist diese Argumentation sogar stärker geworden. Natürlich wird das so nicht gehen, das liegt aber nicht am Erdbeben, sondern im Wesen des Industriekapitalismus als solchem.

Die Atomkraft, die wurde mit aller Macht vom Geflecht Kapital-Staat vorangetrieben. Ein wenig nachgedacht und es wird klar: die Argumente zur Legitimation von „Wir brauchen AKW“ haben sich in Japan historisch auf bemerkenswerte Weise gewandelt. Anfangs ging es im Namen der „friedlichen Nutzung von Atomkraft“ um das Problem der Kernwaffen. Das begann mit dem Koreakrieg, ausgehend von Amerika. Diese Motive bestehen auch heute noch, ohne sie je öffentlich so zu äußern. Dann, zur Zeit des Ölschocks, hieß es, die Ölressourcen seien begrenzt, weshalb anstelle von Wärmekraftwerken der Bau von AKW gefördert wurde. Auch das war eine Strategie Amerikas. Die ölproduzierenden Länder im nahen Osten konnten nicht mehr unter Druck gesetzt werden, und dem wolle man mittels Strom aus Kernkraft begegnen. Dann kam die Kampagne, dass der Wärmekraftstrom wegen des Kohlendioxidausstoßes zur globalen Erwärmung führe und folglich nur Atomkraft bliebe. Das ist eine glatte Lüge, denn tatsächlich unterscheidet sich – durch die Herstellung von Uranbrennstoff, den Bau der AKW und die Entsorgung der Radioaktivität – die Menge an CO2-Ausstoß durch die AKW nicht von der durch Wärmekraftstrom. Mit dieser sich laufend ändernden Legitimation von Kernkraft ist es daher das Gleiche wie mit dem Irakkrieg zur Zeit der amerikanischen Bush-Regierung. Erst wurde behauptet, dass es Massenvernichtungswaffen gibt und der Krieg begonnen, und als sich das Gegenteil herausstellte, hieß es, es ginge um die Demokratisierung des irakischen Volkes. Zwischendurch andere Gründe aufzutischen, das beweist doch, dass es sich um Lügen handelt und die wahren Motive verschwiegen werden. So ist es auch mit der Kernkraft. Immer wieder andere Gründe dafür vorzubringen, dass man sie braucht, zeigt doch: es ist eine Lüge.

Schaut man sich die Länder an, die nach Fukushima entschieden haben aus der Kernkraft auszusteigen, so haben die keine Kernwaffen, wie Deutschland und Italien. Beide Länder waren einst gemeinsam mit Japan die Achsenmächte. Japan aber steigt nicht aus. Und zwar, so denke ich, weil der japanische Staat den Ehrgeiz hat, Kernwaffen zu besitzen. Ebenso Südkorea. Und natürlich verfügen Russland und Indien über Kernwaffen. Länder, die Kernwaffen besitzen, oder sie herstellen möchten, stoppen keine AKW, weil aus den Reaktoren, die Uran benutzen, Plutonium hergestellt werden kann. Von Anfang an wurden auf diese Weise Atombomben gebaut, denn das war das eigentliche Ziel der Atomkraft. Man spricht von der „friedlichen Nutzung der Kernkraft“, das aber ist unmöglich. Für die gleiche Kernkraft ließe sich auch der Brennstoff Thorium verwenden. In dem Buch „Revolution in der Atomkraftsicherheit“ (Furukawa Kazuo, Verlag Bungei shunjū, 2011) heißt es, Thorium sei sicherer als Uran und außerdem sauberer und kleinformatiger, und es gäbe weniger Verlust bei der Stromverteilung. Das klingt plausibel, doch wird es nicht zur Anwendung kommen, denn daraus kann man kein Plutonium gewinnen, d.h. keine Kernwaffen herstellen.

Atomkraft ökonomisch für vernünftig zu halten, diese Rechnung geht nicht auf. Wie viel Geld ist allein dafür nötig, den gegenwärtigen Atommüll zu entsorgen?! Es ist jedoch der Staat, der so etwas – aus ökonomischer Sicht – Irrationales betreibt. Genauer gesagt, das Militär. Weil das Militär stets an den Feind denkt, muss man selbst auch Kernwaffen haben, wenn der Feind welche besitzt. Anderenfalls müsste man auf solche Länder setzen, die welche haben. Und so ist der Staat gewillt, möglichst selbst Kernwaffen herzustellen und zu besitzen. Mit ökonomischen Berechnungen hat das nichts zu tun. Das ist definitiv unökonomisch, doch der Staat muss das tun. Natürlich profitiert die Rüstungsindustrie davon. Die amerikanische Rüstungsindustrie sehnt sich nach Kriegen. Ebenso die japanische. Mitsubishi sowieso, aber auch Tōshiba und Hitachi sind Rüstungsindustrien, und der Bau von AKW ist ein Glied in der Kette. Sie verkaufen AKW auch in andere Länder. Wird die Atomkraft in Japan gestoppt, so wird es für sie problematisch, wenn auch nicht mehr ins Ausland verkauft werden kann. Deshalb können sie nur schwerlich einem AKW-Stopp zustimmen. Folglich gerät die Forderung nach einem AKW-Stopp zu etwas Grundsätzlicherem: zum Problem, auf Militärausrüstung, auf Krieg zu verzichten.

 

Ohne direkte Aktionen stirbt die Demokratie

Red.: Zur Demo am 24. April: Herr Karatani, auf der Website ‚Nakaike-Vorlesungen‘, einer zivilbürgerlichen Veranstaltungsreihe, in der Sie selbst auch vortragen, haben Sie gesagt: ‚Ich denke, dass es in der gegenwärtigen Situation am wichtigsten ist, die Anti-AKW-Demonstrationen auszuweiten‘, und zur Teilnahme daran aufgerufen. Sie selbst haben auch an den Demonstrationen im Shiba-Park und dann vor dem Stadtbezirksrathaus in Shibuya teilgenommen. Nach 50 Jahren das erste Mal wieder auf die Straße gegangen – darf ich fragen, warum Sie sich dieser Bewegung zuwenden?

KK: Auf Demonstrationen zu gehen – darüber diskutiere ich schon seit geraumer Zeit. Vor Jahren schon habe ich irgendwo einen Vortrag, „Warum wird nicht demonstriert?“, gehalten. Auch in dem Buch „Karatani Kōjin seiji o kataru“ („Karatani Kōjin: Über Politik. Im Gespräch mit Koarashi Kuichirō“, Verlag Tosho shinbunsha, 2009) thematisiere ich das. Ich denke darüber nach, warum die Japaner aufgehört haben zu demonstrieren. Nach dem 11.3. ist mir dann etwas klar geworden, was damit im Zusammenhang steht. Es gab ja in den 1980ern tatsächlich große Protestbewegungen gegen die Atomkraft in Japan. Warum aber konnten bis heute dennoch 54 Reaktoren gebaut werden? Das, und warum zur gleichen Zeit nicht mehr demonstriert wurde – beides gehört zusammen.

Alles, was heute über Anti-AKW geäußert wird, wurde schon damals, in den 1980ern gesagt. Und tatsächlich werden viele Bücher wieder aufgelegt und gelesen, sie sind auch heute vollkommen gültig. Erstaunlich ist vielmehr, dass nichts von dem, was damals debattiert wurde – die Gefährlichkeit der Atomkraft, technische Mängel – bislang gelöst ist. Die AKW bedürfen zudem, eben weil es gefährlich ist, unabwendbar harter Arbeit; einer Arbeit, die besser Sklavenarbeit genannt werden sollte und die bis heute andauert. Das hat der jetzige Unfall erneut zu Bewusstsein gebracht. Gründe, warum man gegen Atomkraft sein muss, sind keine Neuerfindung durch diesen Unfall jetzt. Die sind schon in den 1950ern deutlich gemacht worden. Dann aber ist zu fragen, warum gegen den Bau der AKW nicht interveniert wurde. Es herrschte ein Zustand, in dem es unmöglich geworden war, Gegner der AKW zu sein, und zwar ohne besonderen Zwang. Gleiches gilt für die Demonstrationen – obwohl sie nicht verboten waren, ging nichts mehr. Was also tun, um diesen Zustand zu durchbrechen. Darüber dachte ich nach, und einiges habe ich auch von mir gegeben, letztlich aber blieb nur, zunächst selbst zu demonstrieren. „Diskussionen“ darüber, warum nicht demonstriert wird, führen zu nichts, davon geht eine Demo nie und nimmer los. Eigentlich ist es ja komisch, dass überhaupt gemeldet wird, eine Demo habe stattgefunden. Doch eben deshalb bleibt mir nichts, als jetzt selbst zu Demos zu gehen.

Red.: Was haben Sie dabei empfunden?

KK: Ich hatte ein gutes Gefühl. Vermutlich hatte mancher Teilnehmer bis dahin so seine feste Vorstellung von einer Demo, doch dann – war nicht alles ganz anders? Ziemlich viele Leute waren mit ihren Kindern gekommen. 1960 habe ich an zahlreichen Demos gegen den Sicherheitsvertrag teilgenommen, die jetzigen aber sind anders als die von damals. Dass ich erstmals seit 50 Jahren wieder auf einer Demo war, stimmt allerdings nur für Japan. Denn als ich in Amerika gelebt habe, bin ich oft zu Demos gegangen. Oder besser gesagt, als 100.000 Leute an meinem Haus vorbeizogen, hätte ich nicht ins Café gehen können, ohne den Zug zu durchqueren, also habe ich gelegentlich an einer Demo teilgenommen. Na klar, denn es waren ja Demonstrationen gegen den Krieg im Irak. Die jetzigen Demos in Japan sind denen von damals durchaus ähnlich.

Red.: Sie sprachen davon, dass sie anders als zu Zeiten des Sicherheitsvertrages sind, worin unterscheiden sie sich denn?

KK: 1960 standen prinzipiell die Arbeitergewerkschaften im Mittelpunkt, und an vorderster Front demonstrierten die Studenten. Auch die Demos des „Zengakuren“1 führten, als eine Gruppe des Nationalen Komitees für gemeinsamen Kampf, bis Mitte des Jahres lange Protestzüge an (was sich dann allerdings änderte). Unter den hunderttausenden Teilnehmern waren 10.000 oder 20.000 Studenten.

Red.: Sie haben gemeinsam demonstriert?

KK: Ja. Nach 1960 brachen dann allerdings Studenten und Arbeiter weiter auseinander. Ende der 1960er, in der Zeit des sog. „Zenkyōtō“2, hatten die studentischen Demonstrationen kaum mehr Kontakt zur Arbeiterbewegung. Die Demos radikalisierten sich sukzessive, weshalb normale Bürger sich nicht mehr beteiligen konnten und sie mehr und mehr auseinanderbrachen. Und so kann man sagen, dass es nach 1960 keine großen nationalen Demonstrationen mehr gab. Gegenwärtig existiert an den Universitäten keine studentische Selbstverwaltung; auch die Gewerkschaften sind schwach. Kurz gesagt, die Tepco-Gewerkschaft unterstützt die AKW. Ebenso die Demokratische Partei Japans (DPJ), die von den Gewerkschaften unterstützt wird. Die werden also kaum demonstrieren. Daher werden die jetzigen Demos von einer Assoziation aus Individuen durchgeführt, die keiner festen Organisation zusammenkommen. Wir z.B. (die Mitglieder des Nagaike-Komitees) sind etwa 50 Leute, ich denke, es gibt eine Menge solcher kleinen Gruppen. Wenn junge Leute auch weiterhin demonstrieren, gehe ich mit ihnen.

Red.: Sie, Herr Karatani, haben 1991, zur Zeit des Golfkriegs, das „Literaten-Treffen“ gegen Japans Teilnahme am Krieg initiiert. Im Rückblick darauf haben Sie konstatiert: „Allein hätte ich nichts unternommen.“ „Oft war (ich selbst) passiv“ (in: „Karatani Kōjin seiji o kataru“, S. 74). Diesmal haben Sie aufgerufen, und Sie verkünden, dies auch weiterhin zu tun.

KK: Ich habe mich einfach den von anderen organisierten Demos angeschlossen, nicht selbst etwas begonnen, und in diesem Sinne bin ich passiv. Das ist jedoch kein Problem. Mir liegt überhaupt nicht daran, Zentrum einer Bewegung werden zu müssen. Gibt es eine Demo, gehe ich hin. Nur bin ich eben jemand, der nicht allein teilnehmen kann, selbst wenn eine stattfindet. Daher denke ich, dass Demos unmöglich sind, wenn man sich nicht zusammenzuschließt. Darum meine Rede, dass es der Assoziation bedarf.

Red.: In „Karatani Kōjin seiji o kataru“ haben Sie sich, auf die Zeit des Beginns von NAM3 im Jahr 2000 zurückblickend, folgendermaßen geäußert: „Dass ich in dieser Zeit eine Bewegung gestartet habe, lag – und das gilt auch für das Theoretische – an dem Krisengefühl, das ganz real war. In den 1990ern schritt in Japan die „Neoliberalisierung“ voran. Ein jederzeit kriegsbereites System hatte sich formiert. Dem wollte ich mit der Zeitschrift „Critical Space“ etwas entgegensetzen, doch waren wir ohnmächtig. Mir wurde klar, dass bloße Kritik zu nichts führt, weshalb ich eine soziale Bewegung initiieren wollte. Ja, zwischen meinem damaligen Denken und den jetzigen Aktivität gibt es durchaus einen Zusammenhang. Wie NAM, also der Name „New Associationist Movement“ ja verrät, wurde seither immer wieder die Notwendigkeit von Assoziationen betont.

KK: Und so ist es auch heute noch. Damals meinte „Assoziation“ Kooperativen und lokale Währungen, d.h. die Erschaffung einer nichtkapitalistischen Ökonomie, was heute natürlich umso notwendiger wird. Vor allem wenn die ökonomische Krise kommt. Der Gedanke, dass „Kritik“ zu nichts führt, rührte von dem Gefühl her, dass sich die Welt mach dem Zusammenbruch der Sowjetunion grundlegend gewandelt hatte. Die Zeitschriften „Critical Space“ oder „Gendai shisō“4 waren bis dahin Produkte der Struktur des Kalten Krieges zwischen den USA und der SU. Einfacher gesagt, ging es ihnen um die Dekonstruktion der bipolaren Welt USA vs. SU. Real taten wir nichts, und konnten es ja auch nicht. Werden beide Seiten kritisiert, so geschieht zwar nichts, doch hatten wir das Gefühl, etwas getan zu haben. Mit dem Zusammenbruch der SU aber brach auch diese Welt zusammen. Es war der Golfkrieg, der deutlich werden ließ, dass die Kalte-Kriegs-Struktur USA-SU am Ende war. Bisherige Haltungen besitzen keine Gültigkeit mehr, dachte ich damals, und organisierte das Antikriegstreffen mit den Literaten. Viele haben mich allerdings dafür kritisiert. Leute wie die vom einstigen „Zenkyōtō“. Vermutlich unterdrücken die, die einst demonstrierten, mittlerweile Meetings und Demos. Heute aber kennen die jungen Leute den Druck, in Demos etwas Negatives zu sehen, nicht mehr. Und das ist meiner Meinung nach gut so.

Red.: Auch ich habe den Eindruck, dass es vor allem junge Leute in der 20ern, 30ern sind, die aktiv an den Demos teilnehmen.

KK: Was m.E. an dieser großen Katastrophe liegt. Außeralltägliche Erfahrungen bewirken ein neues Selbst, eine neue Lebensweise der Menschen. Etwas im bisherigen Alltagsleben Verborgenes tritt hervor. Denn die kapitalistische Wirtschaft durchdringt wirklich alles, bestimmt selbst das Leben kleiner Kinder. Vor kurzem stieß ich auf etwas Interessantes. Es scheint eine Demo unter dem Motto „Ich hasse diese ganze Stellensucherei“ zu geben. Klasse! Kaum an der Uni und schon muss man sich um eine Stelle kümmern, das muss man ja hassen. Das soll Uni sein? Dass es an den Unis heute keine Wissenschaft mehr gibt, wird klar, wenn man sich die ganze Situation um die Atomkraft-Forscher betrachtet. Deshalb: Ja, sagt, dass Ihr das hasst, demonstriert.

Red.: In „Karatani Kōjin seiji o kataru“ erläutern Sie mehrfach, dass Demonstrationen unentbehrlich sind; zeigen sich in diesem Sinne jetzt solche „ersten Keime der Hoffnung“?

KK: Ich denke schon. Mir scheint, dass sich seit dem 11.3. das politische Klima in Japan ein wenig gewandelt hat. Z.B. das Wort „Volkssouveränität“ – es entstand mit dem Umsturz von Verhältnissen wie etwa in einer absoluten Monarchie, in der der König Souverän ist. Was aber heißt, das Volk sei Souverän? Das ist nicht so einfach. Was ist das Volk in einer parlamentarischen (repräsentativen) Demokratie? Es gibt Wahlen, bei denen das Volk seine Stimme abgibt. In diesem Sinne wird der Volkswille widergespiegelt. Das aber ist wie eine Meinungsumfrage, wie die Einschaltquote beim Fernsehen. In Wirklichkeit hat sich dann ein Monat später die Stimmung der Leute wieder geändert. Kurz gesagt, „Volk“ ist lediglich eine statistische Existenz. Dem Einzelnen bleibt nur, sich den Entscheidungen eines solchen „Volkes“ zu fügen. Mit anderen Worten, sich den auf diese Weise gewählten Repräsentanten zu fügen, und tatsächlich dann den staatlichen Organen (Bürokraten). In einem solchen System können die einzelnen Individuen nicht Souverän sein, sondern höchstens irgendeinem Repräsentanten applaudieren.

Einst bemerkte der Philosoph Kuno Osamu (1910-1999), dass Demokratie nicht allein über das Repräsentationssystem (Parlament) funktioniere und sterbe, wenn es keine direkten Aktionen wie Demonstrationen gibt. Manch einer meint, eine Demonstration sei etwas, um auf einer weniger entwickelten Stufe miteinander zu kommunizieren. Es gäbe die Möglichkeit der interaktiven Kommunikation über Internet. Das glaube ich jedoch nicht. Dabei bleiben die einzelnen unsichtbar. Jeder ist nur eine statistische Existenz wie bei der Einschaltquote im Fernsehen, kann also keineswegs Souverän werden. Daher wird es in der Welt des Netzes so zugehen wie im Parlamentarismus. Das hat sich seit dem 11.3. ein wenig geändert, weil die Leute begonnen haben zu demonstrieren. Sowohl Internet als auch Twitter werden jetzt genutzt, um zu ermuntern, an Demos teilzunehmen.

China z.B.: Es heißt, das „Netzvolk“ (netizen, Red.) nehme zu, weshalb China sich verändert habe, so etwas wie eine „System-Revolution“ stattfinde. Doch nichts passiert, und kann auch nicht passieren. Leute, die sich ganz und gar dem Internet verschrieben haben, gehen nicht auf Demos. Das ist auch in Japan so. Umgekehrt aber ändert sich auch die Bedeutung von Internet, wenn demonstriert wird. So berichteten beispielsweise weder Zeitungen noch das Fernsehen davon, als es die ersten Demonstrationen in Japan gab. Da jedoch alle die Bilder in Youtube sahen, konnte es nicht verschwiegen werden. Und so wurde allmählich auch darüber berichtet. Es hat sich also augenscheinlich einiges verändert. Danach zu fragen, ob das nun dem Internet oder den Demos zu verdanken ist, ist dabei allerdings unerheblich.

 

Um der Zukunft willen nach Verantwortung fragen

Red.: Herr Karatani, hat sich, verglichen mit der Zeit unmittelbar nach dem Erdbeben, in Ihrem Denken etwas verändert?

KK: Ja, sicher, aber nicht wesentlich. Anfangs hatte ich keine Vorstellung, wie es weitergehen würde. Jetzt? Naja, die Situation wird wohl noch lange so bleiben. Nach der AKW-Havarie hieß es oft „keine unmittelbare Gefahr“. Die Ausländer aber sind sogleich außer Landes geflüchtet. Die Deutschen haben sogar die Direktflüge nach Narita eingestellt. Auch jetzt noch sind es die Daten des Deutschen Wetterdienstes, die ich mir ansehe. Sie haben von Beginn an die korrektesten Informationen zur Verfügung gestellt: jeden Tag wurde übermittelt, wie sich aufgrund der jeweiligen Windrichtung das radioaktive Material bewegt. Je nach Windrichtung flog es nach Ōsaka und Sapporo, mitunter sogar bis nach Seoul. Die Ausländer haben das verfolgt, die Japaner nicht. Denn hier wollte man das geheim halten, weshalb es viele Leute gibt, die das nicht wissen. Doch trotz allen Bemühens der japanischen Regierung kann es nicht mehr geheim gehalten werden. Heute sind Informationen sofort im Internet verfügbar. Manch einer meint, die Ausländer würden zu aufgeregt sein, Gerüchte würden nur Schaden anrichten, doch zu schweigen ist viel schlimmer. Auf Gefahren hinzuweisen ist doch das normalste der Welt, warum sollten das Gerüchte sein? Wenn die Japaner nichts sagen, so liegt das daran, dass man sie die Wahrheit nicht wissen lässt. In der letzten Zeit ändert sich diese Situation allmählich, es gibt Leute, die ihre Wut zum Ausdruck bringen.

Vor kurzem wurde in Italien Klage dagegen erhoben, dass das Urteil der Wissenschaftler der Kommission für Katastrophenschutz bei dem Erdbeben vom April 2009 (mit 309 Toten und über 60.000 Geschädigten), es habe keine Vorzeichen für dieses große Beben gegeben, damit zu tun habe, dass es zu größeren Schäden gekommen sei. In diesem Fall, so meine ich, kann man verstehen, dass die Erdbebenspezialisten sich damit gerechtfertigt haben, das Beben sei „außerhalb jeder Vorstellung“ gewesen, dennoch wurde Klage erhoben. Im Fall des AKW Fukushima 1 hingegen greift die Ausrede der Involvierten, das Beben sei „außerhalb jeder Vorstellung“ gewesen, nicht. Es ist selbstverständlich, dass nun nach der Schuld gefragt wird – von Tepco sowieso, aber auch der Bürokraten bis hin zur Regierung. Da zudem das radioaktive verschmutzte Wasser ins Meer abfließt, handelt es sich hier auch um ein internationales Verbrechen. Meines Erachtens bedarf es eines „Tokyo(-Tepco)-Tribunals“.5 Zwar hält dem manch einer entgegen, dass es jetzt, da es gelte, in die Zukunft zu schauen und entsprechend zu handeln, Rückwärtsgewandtheit nichts bringe. Aber Probleme der Vergangenheit auf ihre Verantwortlichen hin zu befragen – eben das ist Zukunftsgewandtheit. Warum konnte bislang gegen den Bau von AKW nicht genügend Widerstand geleistet werden? Aus einem solchen Verantwortungsbewusstsein heraus gehe ich nun zu den Demonstrationen.

Das ist bei den jungen Leuten anders, denn als sie geboren wurden, gab es die AKW bereits. Wenn aber zugelassen wird, dass diese weiter laufen, wird wieder so etwas wie jetzt passieren. Eine junge Rapperin an der Spitze der Demo: Es ist unentschuldbar gegenüber den künftigen Generationen, wenn wir die AKW weiter laufen lassen. Diese Stimmung herrscht auch unter jungen Leuten. Dann gibt es da noch Koide Hiroaki6, den Assistenzlehrer vom Reaktorlabor der Kyōto-Universität. Dessen Vortrag hat mich tief beeindruckt. Unter Tränen entschuldigte er sich dafür, dass der Atomkraft kein Einhalt gebotene werden konnte. Nach dem jetzigen Unfall hätte er sich hinstellen können und sagen: „Habt Ihr das gesehen? Ich war immer dagegen“. Er aber entschuldigt sich, denn daran, dass er es nicht habe verhindern können, ändere das alles nichts. Normal wäre es doch, die Typen, die die Kernkraft befürwortet haben, nach ihrer Verantwortung zu fragen, Verantwortung aber empfindet hier einer, der am meisten von ihr befreit sein sollte. Umso mehr müssen Leute wie ich in der Pflicht stehen.

Was ich am schrecklichsten finde, ist die Tatsache, dass die Reaktoren auch dann nicht verschwinden, wenn sie abgebaut werden. Sarkophage, um sie zu umhüllen, gehen kaputt. Zehntausende von Jahren muss die Menschheit sich nun darum kümmern. Wird man künftig nicht fragen, welcher Bann uns da wohl nur heimgesucht habe? Und selbst wenn einst aller Atom-Strom abgeschafft sein wird, wird man sich allein deshalb mit der Atomkraft beschäftigen müssen, um den Atommüll zu entsorgen. Traurig für die Wissenschaft, aber jemand muss es tun. Warum aber, und mit welchem Recht, mussten die Menschen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so etwas herstellen? Von der Herstellung der AKW profitieren die Unternehmen. Akkumulation (Vermehrung) von Kapital aber ist höchstens noch einige Jahrzehnte möglich. Danach sind sie nutzlos. Das heißt aber eben nicht, dass sie beseitigt werden können, das ist das Schreckliche. Bei genauem Nachdenken tut doch niemand solchen Blödsinn. Unter dem Kapital aber denken die Menschen nicht. Die einzelnen Menschen sind hier keine Subjekte, sondern nichts als Schachfiguren. Das wird klar, wenn man sich den Firmenchef von Tepco anschaut. So etwas wie Willen können solche Leute gar nicht haben. Es ist das Geflecht „Staat-Kapital“, das handelt. Die einzelnen sind ganz und gar darin gefangen. Gibt es aber nicht Einzelne, die in der Lage sind, sich dem entgegenzustellen, so kann man das nicht Leben nennen. Solange sich der Einzelne nicht dagegen wehrt, kann doch nicht die Rede von Leben sein.

Red.: Als ein Versuch, aus der Atomkraft auszusteigen, zieht jüngst der Plan, den der Gründer von Softbank, Son Masayoshi, vorschlägt (der großangelegte Bau von Solarstromanlagen), Aufmerksamkeit auf sich.

KK: Da bin ich skeptisch. Leute, die auf die Nutzung natürlicher Energieressourcen setzen, denken nur an neuerliches Geldverdienen. Er ist ein Glied in der Kette des Öko-Business. Bei Sonnenlicht können massenhaft Verkleidungen oder Elektroautos produziert werden. Das aber mag wohl in der Sahara angehen, in Japan führt photovoltaische Stromerzeugung selbst zu Umweltzerstörung. Das brauchen wir nicht. Gegenwärtig ginge es mit Erdgas, wovon es entlang der japanischen Küsten unerschöpfliche Vorräte gibt. Kurzum, zunächst heißt es: Stopp Atomkraft. Dann sollte in Ruhe weiterüberlegt werden.

Red.: Betrachtet man sich die Anti-AKW-Bewegung, so verweist da mancher auf die Notwendigkeit einer „Boykott-Bewegung“. Steht das nicht in Verbindung zu dem, was Sie, Herr Karatani, schon zu Zeiten der NAM-Bewegung gesagt haben?

KK: Boykott ist sicher gut, derzeit jedoch ist es zunächst wichtig, die Demos auszuweiten. Dann kann daraus auch ganz von selbst eine solche Bewegung hervorgehen. Auch Demos wie die bereits erwähnte – „Hass auf die Stellensucherei“ – finde ich gut. Jedenfalls halte ich es für wichtig, eine Zivilgesellschaft zu schaffen, in der, wenn etwas passiert, die Leute demonstrieren. Das ist eine Gesellschaft, in der der Souverän existiert. Vor längerer Zeit hat ein Anthropologe das Buch „Affen mit Handy“ geschrieben. Junge Leute, die ohne miteinander zu sprechen, in ihr Handy versunken sind. Solchen Szenen – wie die Affen in den Bergen – bin ich auch schon oft begegnet. Affen können gewiss nicht demonstrieren. Was aber nicht heißt, das Handy wegwerfen zu müssen. Mit dem Handy aufrecht schreiten, d.h. demonstrieren. Und das tun die jungen Leute ja nun auch tatsächlich – sie demonstrieren und stehen dabei die ganze Zeit per Handy in Verbindung. In diesem Sinne spüre ich durchaus eine „Evolution“.

Red.: Zum Abschluss: Was, meinen Sie ist notwendig, damit die Bewegungen, die sich jetzt erhoben haben, fortbestehen?

KK: Es wäre schön, wenn es endlich normal würde zu demonstrieren. Auch Demos unter dem Motto – „Hass auf die Stellensucherei“, oder „Gebt uns Arbeit“. Es gibt unendlich viele Gründe zu demonstrieren. Die japanischen Firmen gehen ins Ausland und lassen die Japaner im Stich. Das Kapital verkündet, es müsse das tun. Dass diese Willkür des Kapitals geschieht, heißt aber längst nicht, dass die, die dabei geopfert werden, schweigen müssen. Dagegen Einspruch zu erheben ist ganz normal. Kommt es aber dennoch zu keiner einzigen Demo, ja dann – ich weiß nicht. Darauf zu warten, jemand werde es schon tun, heißt nichts zu tun. Darauf zu warten, jemand werde es schon tun, führt letztlich doch nur dazu, dass ein populärer, demagogischer Politiker hochgejubelt wird. Und das heißt letztlich, vom Geflecht Staat-Kapital herumkommandiert zu werden.

 


1 Abkürzung von „Zen nihon gakusei jichika sōrengō“: All-Japan League of Student Self-Government Gesamtjapanische Allianz studentischer Selbstverwaltungen; 1948 gegründete Studentenvereinigung, die der Kommunistischen Partei Japans (KPJ) nahe stand und heute in verschiedene Fraktionen gespalten ist.

2 Abkürzung für „Zengaku kyōtō kaigi“: All Campus Struggle Committees; radikale Studentenbewegung, die 1968 in Reaktion auf die Spaltung des „Zengakuren“ entstand.

3 Abkürzung für die von Karatani und Gleichgesinnten im Jahr 2000 gegründete „New Associationist Movement“ (NAM). Dieser Bewegung ging es darum, Produzenten- und Konsumentengenossenschaften mit eigenen lokalen Währungs- und Kreditsystemen zu initiieren. So wie im Großen („oben“) müsse auch im Kleinen, lokal, innerhalb des Systems und zugleich „draußen“ gehandelt werden. Obwohl die Bewegung bereits 2003 wieder aufgelöst wurde, habe sie doch Spuren hinterlassen und werde im kleinen Maßstab weitergeführt (in: „Karatani Kōjin seiji o kataru“, S. 92).

4 „Critical Space“ (Hihyō kūkan): von April 1991bis 2002 in drei Staffeln erschienene Vierteljahres-Zeitschrift (insgesamt 41 Hefte) bis 2002 erschienen; ihre Rolle beschrieb der neben Karatani fungierende Mitherausgeber Asada Akira in der „New Left Review“ (2000/5) folgendermaßen: „a journal, […] which has tried to make bilateral connexions between the Japanese and Western critical heritages from the 1920s to the present, with a programme of reciprocal translations: an enormous task, on which we’ve only just started.” (Asada Akira: “A Left within the Place of Nothingness. Interview”, in New Left Review 5, September-October 2000, S. 24); „Gendai shisō“: seit 1973 monatlich erscheinende renommierte Intellektuellen-Zeitschrift, in der ebenfalls neueste Strömungen „westlichen Denkens“ (insbesondere Konstruktivismus und Kulturanthropologie) diskutiert werden; in den 1980ern galt sie als eine Art „Leitmedium“ des sich mehr und mehr entpolitisierenden „New Academism“ (ironisiert inzwischen als nyū aka abgekürzt).

5 Anspielung auf den zwischen 1946 und 1948 stattgefundenen Kriegsverbrecherprozess von Tokyo, auch als „Tokyo Tribunal“ bekannt, auf dem insgesamt 28 Kriegsverbrecher der Klasse A angeklagt und 25 von ihnen verurteilt wurden, unter diesen sieben zum Tode (hingerichtet am 23. Dezember 1948).

6 Atomkraft-Spezialist, der seit vier Jahrzehnten vor den Gefahren der AKW besonders im Erdbeben-gefährdeten Japan warnt; Karatani bezieht sich hier auf einen Vortrag von Koide an der Meiji-Universität in Tokyo vom 29. April 2011, den er mit eben diesen entschuldigenden Worten begann; siehe http://www.youtube.com/watch?v=OM-2zRjS65Y

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