Sie sind hier: Projekte > Japanologie Leipzig > kritische Öffentlichkeit

„Von Hiroshima nach Fukushima“

Quelle: Seki, Hirono (2011): Hiroshima kara Fukushima e (Von Hiroshima nach Fukushima), in: Gendai Shisō (2011): Higashi Nihon Daishinsai (Die Erdbebenkatastrophe Ostjapans), Vol. 39-7, S.44-48

übersetzt von Christoph Neubauer/Steffi Richter


Der Alptraum des befürchteten Unfalls in einem Atomkraftwerk ist Wirklichkeit geworden. Zu allem Unglück aber ist ein AKW-Unfall, anders als ein großes Erdbeben, etwas vollkommen Vorhersehbares. Es ist jedenfalls nicht damit getan, den Unfall im AKW Fukushima, oder besser gesagt die Katastrophe, nur an TEPCO´s schlampigem Kontrollsystem oder Fehlern im Design festzumachen. Ein Atomkraftwerk ist eigentlich prinzipiell ein Widerspruch, da man die Kernreaktion – ein nichtnewtonsches Phänomen – im  Rahmen einer Technologie der newtonschen Physik zu kontrollieren versucht, mithin eine von vornherein zum Scheitern verurteilte Technik. Im Falle des AKW Fukushima nahm der Unfall durch die vom Tsunami[1] hat sich herausgestellt verursachte Störung eines einfachen Mechanismus seinen Lauf: der Verlust der Kraftstofftanks für die Diesel-Notstromaggregate. Kommt es aber erst einmal zu einem Unfall im Reaktorkern, so kann dem nicht mehr mechanisch begegnet werden. Die Wirkungen einer Kernreaktion sind ihrer Unbeständigkeit wegen äußerst schwer vorherzusagen und zu kontrollieren. Letztlich bleibt nur, den Dingen ihren Lauf zu lassen, kann der Mensch lediglich notdürftige Behelfsmaßnahmen vor Ort ergreifen.

Gegenwärtig ist dieses Land voller misstrauischer Stimmen, ob nicht TEPCO und die Regierung wesentliche Informationen über den Vorfall verbergen, und auch in der internationalen Gemeinschaft werden ärgerliche Stimmen gegenüber beider Veröffentlichung von Informationen laut. Tatsächlich scheinen, um der Selbsterhaltung der Unternehmen und der Bürokratie willen, Daten zurückgehalten worden zu sein, Tatsache ist aber auch, dass sowohl TEPCO als auch die Regierung über keine brauchbaren Informationen verfügen. Bei einem AKW-Unfall kennt niemand die weitere Entwicklung der Lage, die finalen Ausmaße des Unfalls oder die zu seiner Behebung  notwendige Zeit. Da dies nun einmal so ist, können weder reibungslose Evakuierungspläne aufgestellt noch etwas im Voraus getan werden. Bei einem Kohlekraftwerk kann das selbst bei einer Großhavarie nicht passieren. Die Verärgerung und das Misstrauen der Leute gegenüber TEPCO und der Regierung zeigen, dass der Mensch einen „Vorfall“ lediglich im Rahmen der newtonschen Physik erfassen kann, die mit physikalischen Phänomenen mechanisch umgeht. Als alltägliche Wahrnehmung des Menschen ist das auch nicht unvernünftig. Im Unterschied zu Atomwaffen aber, die von nichtalltäglicher Existenz sind, sind die Atomkraftwerke unter der Bezeichnung “Friedliche Nutzung der Kernenergie“ in unseren Alltag eingedrungen. Hier liegt das Problem.

Die gewöhnliche Vorstellung der Menschen bezüglich Technik ist unvereinbar mit einer Zunahme an Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit. Deshalb sind Atomkraftwerke vom gesunden Menschenverstand der newtonschen Physik her gesehen ein Skandal. Da aber die Menschen in den Atomkraftwerken eine Hochtechnologie in Fortführung der newtonschen Physik sehen, nehmen sie diesen Skandal nicht wahr, bis ein irreversibler Unfall geschieht. Und so leben die Energieunternehmen, die Regierung, die die AKW verwaltenden Beamten und das Volk (shomin) inmitten der gleichen Illusion. Sie betrachten den AKW-Unfall als kalkulierbares Risikoproblem. Profit und Nutzen, den ein Atomkraftwerk mit sich bringt, werden für abwägbar mit dem Risiko eines Unfalls gehalten. Aber Risikokalkulation kann nur für Techniken im Rahmen der newtonschen Physik Anwendung finden. Nehmen wir das Beispiel einer Brücke. Hier kann man ihren Nutzen für uns und das Risiko, bei einem Erdbeben einzubrechen, wohl gegeneinander aufwiegen. Für den äußersten Fall, dass es doch passiert, können Pläne zur Abfederung des Katastrophenschocks aufgestellt werden, etwa die Einrichtung eines Systems, das die umliegenden Straßen automatisch für die Durchfahrt sperrt. Die Risikokalkulation hat hier einen Sinn, da es technisch möglich ist, unfallbedingte Tote und Verletzte möglichst gegen Null zu halten und die Brücke schnell wieder aufzubauen. Dies ist keine Wette auf Leben und Tod. Und sollte die Brücke dennoch einbrechen, so ist der Unfall damit vorbei. Im Gegensatz dazu ist das Risikodenken auf Atomkraftwerke, bei denen Unfälle zu ungewissen, unvorhersehbaren Lagen führen, nicht anwendbar. Eine kaum zu beherrschende Situation, in der sich radioaktive Substanzen bis nach Island verteilen, kann nicht als Risiko kalkuliert werden. Sich auf Atomkraftwerke einzulassen ist kein Risiko, sondern eine Katastrophe. Ohne ein solches Wissen konnte sich das japanische „Atomdorf“ auch nicht vorstellen, ausmalen, dass der bloße Verlust der Kraftstofftanks sich zu einem astronomischen Unglück ausweitet.

Dann war da noch die Reaktion der Gesellschaft auf den schweren Unfall im Atomkraftwerk. Tatsächlich sind in dessen Folge zwei Dinge erstmals klar geworden. Erstens war zwar vorausgesagt worden, dass bei einem Unfall die Gesellschaft durch die vielen Zuflucht suchenden Menschen in ein riesiges Chaos stürzt. Doch in der Realität blieben Szenerien wie in Katastrophenfilmen selbst dann aus, als sich die Bedrohung durch radioaktive Verschmutzung bis in die Gebiete der Hauptstadt ausbreitete, und auch die Zahl der nach Westjapan fliehenden Menschen hielt sich stark in Grenzen. Ganz im Gegenteil. Selbst in der 30km-Zone um den Unfallort gab es Menschen, die aus verschiedenen Beweggründen ihre Häuser nicht verlassen konnten. Letztlich sind nur ganz wenige in der Lage, ihre gesamte Lebensgrundlage wegzuwerfen und sich auf lange Sicht in Westjapan aufzuhalten. Und so wurde klar, dass man in einem so dicht besiedelten Inselland wie Japan vor einem atomaren Vorfall nicht fliehen kann, selbst wenn man dies wollte. In diesem Land bedeutet ein AKW-Unfall, in einem verschlossenen Zimmer eingesperrt und dem Grauen radioaktiver Strahlung ausgesetzt zu sein.

Zweitens hat die Anti-Atomkraftbewegung bis heute vor allem das physische Problem der langfristigen Wirkung von Radioaktivität auf den menschlichen Körper betont. Dieser Standpunkt erleichtert es tendenziell, von den Befürwortern der Atomkraft in einen endlosen und ergebnislosen Disput verwickelt zu werden. Die Befürworter behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit, aufgrund von Radioaktivität an Krebs und Leukämie zu erkranken, die im schlimmsten Fall bei ca. 10 von 10.000 Menschen liegt, bei weitem niedriger sei als die Zahl der Verkehrstoten. Eine solche Behauptung vergisst, dass die Geschichte der menschlichen Erforschung von Radioaktivität noch jung ist und genaues Wissen über die Wirkung radioaktiver Strahlen auf den menschlichen Körper nicht existiert. Lassen wir jedoch dieses Problem beiseite. Was der Unfall aber sogleich zutage treten ließ, war eine Situation ungewöhnlichen Anstiegs von Unsicherheit und Stress im ganzen Land. Auch meine Bekannten, die in Ôsaka wohnen, das eigentlich sicher sein sollte, befinden sich alle in einem Zustand der Depression. Wenn auch nur geringfügig, so könnten ja auch in der Kansai-Region Luft und Wasser radioaktiv verseucht sein. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit zu erkranken nur bei 10 von 10.000 liegt, so gehört man ja aber vielleicht selbst zu diesen. So vermag die Gefahr der Verschmutzung von Nahrung und Wasser die Menschen in eine bodenlose Unsicherheit zu versetzen, was auch in der Kansai-Region panische Hamsterkäufe auslöste. Unvorhergesehenes Produkt dieses Unfalls ist eine Hyperstressgesellschaft. Und so kann es passieren, dass dieser – mit dem Einflussbereich des Unfalls etc. in keinerlei Verbindung stehende – Stress über die Schäden durch radioaktive Strahlen hinaus Krankheiten, Unfälle und Schwierigkeiten in allen Lebenslagen verursacht. Dieser Stress verbreitete sich auch im Ausland, wo Japan nun als Symbol der Unsicherheit für die Menschheit gilt. Deswegen ist der Atomunfall – mehr noch als ein physischer Schock – ein schier unerträgliches mentales Ereignis. War, so gesehen, nicht auch das Erlebnis der Verstrahlung von Hiroshima und Nagasaki eine im Wesentlichen mentale Erfahrung, weshalb die Japaner nicht davon loskommen? Auf jeden Fall wird es fortan nicht möglich sein, über Atomkraft zu diskutieren und dabei diese mentale Unerträglichkeit zu ignorieren.

Ein Jeder ahnt wohl, dass Japan mit der Erfahrung dieses Unfalls unmöglich wieder so wie vorher werden kann. Wären es nur die Erdbebenkatastrophe und der Tsunami gewesen, stünden wohl Restauration und Wiederaufbau auf der Tagesordnung. Der Atomunfall aber muss dieses Land verändern. Allein das sich aus diesem Anlass stellende Problem, dass eine noch größere Konzentration allein auf Tokyo nicht möglich ist, wird sich die Gesellschaftsstruktur Japans in großem Maße verändern. Das durch die Stromsparen dunkler gewordene Tokyo deutet eine solche Zukunft an. Die Kosten für den Wiederaufbau nach der Erdbebenkatastrophe und für die Bewältigung des Atomunfalls beschleunigen wahrscheinlich den finanziellen Zusammenbruch des Steuerstaates. Ein Konkurs von TEPCO würde die ohnehin dahinvegetierenden Großbanken noch mehr in Bedrängnis bringen. Und da die japanische Wirtschaft ein wichtiger Knotenpunkt der Weltwirtschaft ist, wird Japan kaum mehr amerikanische Staatsanleihen kaufen können, wodurch  womöglich der Dollar abstürzt und die von ihm als Leitwährung getragene Globalisierung deutlich  zum Erliegen kommt. Die Krise Japans kann globale Resultate zur Folge haben. Und so gerät dieses in der internationalen Politik ohnehin kaum präsente Land nunmehr dadurch in den Fokus globalen Interesses, dass man sich erzählt, die Radioaktivität sei die furchtbare Vergeltung für eine trügerische Prosperität. (muss ich noch einmal prüfen) Japan vor der Erdbebenkatastrophe war, im Vergleich zu den von der Weltfinanzkrise direkt betroffenen USA und den Ländern der EU, etwa von der Arbeitslosenquote her relativ stabil. Wohl deshalb, weil die japanischen Banken sich in der Bubble die Finger verbrannt hatten und nicht, wie die amerikanischen und europäischen Banken, die Freiheiten hatten, bei den großen Geldspielereien mitzumischen. Eine hohe Sparrate und gutgehende Exporte waren weitere Gründe der Stabilität. Nicht die Krise war für Japan das Problem, sondern die Unmöglichkeit weiteren Wirtschaftswachstums. Deswegen hätte es nach dem Platzen der Blase die Aufgabe Japans sein müssen, die Realität der Grenzen des Wachstums zu akzeptieren und einen Wertewandel und eine Umstrukturierung der Gesellschaft in Richtung postindustrielle Etappe anzustreben. Die sogenannten „verlorenen 20 Jahre“ hätten eine Anlaufzeit hin zum Postindustrialismus sein können. In der Realität aber verharrte dieses Land weiter in der Unternehmenskultur der Phase des wirtschaftlichen Hochwachstums, und ergab sich sinnlosen Diskussionen, das geringe Wachstum dadurch überwinden zu können, dass man gründlich globalisiere. Dennoch hatte ich gehofft, dass die Kultur der Japan-AG auf komödiantische Weise mit einem leichten Lächeln der jungen, als introvertiert, zu weich oder als Otaku verspotteten Generation untergehen würde. Dass sie auf tragische Weise, in Form einer Katastrophe, des Atomunfalls, zu Ende gehen würde, das war nicht zu erahnen.

Das Atomkraftwerk Fukushima, das inmitten der wirtschaftlichen Hochwachstumsphase, Ende der 1960er Jahre errichtet wurde, ist, so heißt es, ein Produkt von General Electrics (GE) aus Amerika, sowie in Teilen ein Lizenzprodukt von Hitachi und Toshiba. Schon allein daran kann man erkennen, dass sich in diesem AKW die Geschichte des Nachkriegsjapans verdichtet. Japanische AKW sind ein Produkt des Kalten Krieges und des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrages. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges und dem System des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrages erstrebte das Nachkriegsjapan eine Modernisierung als Amerikanisierung, durch Import aller nur möglichen neuesten Technologien aus Amerika, das dem Kaiserreich Japan eine Niederlage beigebracht hatte. Amerika machte das prosperierende Japan zu einem Bollwerk gegen den Kommunismus und verkaufte Japan zugleich die Technologie für die AKW, um das amerikanische Nuklearmonopol zu sichern. Ohne diesen geschichtlichen Hintergrund ist nicht erklärbar, warum AKW nach Plänen von GE, in denen Erdbeben kaum berücksichtigt werden, an der Küste der Präfektur Fukushima in Betrieb genommen wurden und warum das Erdbebenland Japan die drittgrößte Atommacht der Welt ist. Als Produkt des Kalten Krieges und des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrages sind sie zudem untrennbar verbunden mit der langjährigen politischen Macht der LDP (Jimintō), insbesondere der diese Partei stützenden Beziehung zwischen Zentrum und Provinz. Und so wurde immer schon darauf verwiesen, dass AKW kein technisches oder wirtschaftliches, sondern prinzipiell ein politisches Problem sind. Auf jeden Fall sind sie nicht einfach ein marktwirtschaftliches Produkt. Investoren sind nicht weniger skeptisch als die Anti-Atomkraftbewegung. Weil sie wissen, dass ein AKW nicht eine riskante Technik, sondern ein überaus gefährliches Spiel ist, investieren sie nicht. Deshalb können Atomkraftwerke in keinem Land ohne staatspolitische Unterstützung und Subventionen existieren. In Japan kommt das Problem des lokalen Monopolsystems staatlich zugelassener Stromunternehmen hinzu. Daher zeigt das konkrete Beispiel der AKW, dass sich der Kapitalismus nicht auf eine lehrbuchmäßige Marktwirtschaft reduzieren lässt. Basis des Kapitalismus ist das genaue Gegenteil von Demokratie – die Aneignung des Staates durch einige wenige Eliten. Die Marktwirtschaft ist nur eine Strategie dieser Macht und Herrschaft. Wer über die Energie herrscht, beherrscht alles. Wenn dem so ist, dann muss die Strategie des Ausstiegs aus der Atomkraft die Suche nach einer postindustriellen Demokratie bedeuten. In diesem Punkt lohnt es sich, gerade jetzt aufs Neue das Buch „Energie und Gerechtigkeit“ (1974) des verstorbenen Ivan Illich zu lesen, trotz des Mangels, dass er seine Leser in einem Gesinnungsanarchismus schwelgen lässt. Darin diskutiert er die Emanzipation der Menschen in einer weniger Energie verbrauchenden Gesellschaft, ein Buch also, das bei den kommenden nationalen Kontroversen um Für oder Wider in Sachen AKW zu einem Ausgangspunkt der Diskussion werden sollte. 

Wenn es überhaupt eine geschichtliche Bedeutung der Katastrophe im AKW Fukushima gibt, dann liegt sie im Meltdown der Machtstruktur, die den Kurs im Nachkriegsjapan beherrscht hat. Diese Struktur der Hinterzimmer-Politik und eines aus der Welt der Politik, der Wirtschaft und der Bürokratie bestehenden Filzes sind durch einen Schlag des Schicksals wie Bauklötzchen umgefallen. Die Panik des Vorstands von TEPCO und hoher Beamter der Regierung sind ein Anzeichen für die Auflösung dieser Macht. Hinsichtlich der Erdbebenkatastrophe haben sich, im Vergleich zum Hanshin-Erdbeben von 1995, die Reaktionen auf den Ausnahmezustand und die angeschobenen Hilfsmaßnahmen weitreichend verbessert. Die Not der Menschen im betroffenen Katastrophengebiet schmerzt, doch hat diese nur alle 1000 Jahre einmal vorkommende Naturkatastrophe die Menschen in Tōhoku nicht gebrochen. Ein Atomkraftwerk aber ist ganz und gar ein Produkt der Politik. Dieser GAU hat das Herrschaftssystem dieses Landes erschüttert, wenngleich seine Zersetzung und Auflösung bereits seit der Zeit der 1980er Bubble und ihres Zerplatzens voranschreitet. Allgemein sind immer mehr kritische und ärgerliche Stimmen darüber zu hören, wie die gegenwärtig regierende Demokratische Partei (Minshutō) auf die Katastrophe reagiert hat, doch war auch der Regierungswechsel von der LDP (Jimintō) zur DP nur ein Symptom dieses fortschreitenden Verfalls. Die Bubble der 1980er Jahre und die darauf folgende Phase niedrigen Wachstums zeigten, dass die Modernisierung Japans, im Sinne einer Verwestlichung, abgeschlossen war, weshalb Japan in dieser Phase dringend einer Selbstbefragung und Selbstreflexion seiner eigenen Modernisierung bedurft hätte. Doch wurde das niedrige Wachstum lediglich als Krise der Betriebswirtschaft begriffen, und der Frage nach der Moderne hat man sich mittels eines Geschichtsrevisionismus entzogen, der – sich seines Unrechts durchaus bewusst – die Taten des japanischen Reiches affirmiert. Und so lebten die Japaner in diesen zwanzig Jahren in einer Wohlstandssaturiertheit der Nachkriegszeit. Nun aber, durch den Atomunfall, ist der Faden dieser Geschichte von der prosperierenden Japan-AG gerissen; wie er neu gesponnen, eine andere „Geschichte Japans“ erzählt wird – das ist jetzt, in der Post-Fukushima-Epoche, unsere Aufgabe.

Für mich stellt sich die Moderne Japans als ein Problem der Mimesis dar. Die Landesöffnung und Bunmei Kaika („Zivilisation und Aufklärung“ – ein Slogan zu Beginn der Meiji-Zeit, in den 1870er Jahren; A.d.Ü.) waren eine Politik, die unter dem Druck der Schwarzen Schiffe von Commodore Matthew Perry das Tokugawa-Bakufu angestrengt hatte. Doch durch den als „Meiji-Erneuerung“ (Meiji Ishin) bezeichneten Coup de Etat der Provinzen Satsuma und Chōshū (Satchō) erfuhr die Bedeutung dieser Politik einen Wandel. Sie pervertierte zu einer Strategie der Machterhaltung der Meiji-Regierung, die keinerlei Legitimität besaß, mit dem Resultat, dass die Landesöffnung und Bunmei Kaika zu einem mimetischen Entwurf wurden. Dass der Meiji-Staat, der kein übermäßiges Kapital besaß und dennoch durch Technikimport allmählich die Industrialisierung begann, es von Anfang an auf einen imperialistischen Staat abgesehen hatte, kann wohl ohne den Faktor der Mimesis des britischen Hegemonialstaates nicht erklärt werden. Natürlich fand hier der Unterschied zwischen der britischen Herrschaft in Indien und Japans Annexion von Korea keine Beachtung. Die Resultate dieser Mimesis sind Hiroshima und die vernichtende Niederlage im industriellen Krieg mit Amerika. Und dem Nachkriegs-Japan verhalf dann eine Mimesis zu seiner Gestalt, die sich Amerika zum Modell der Modernisierung nahm. Auch hier wurde der Unterschied zwischen dem großen, rohstoffreichen Einwanderungsland und dem kleinen Inselland der dauerhaft Ansässigen außer Acht gelassen. Das Resultat: die staatspolitisch erwirkte Industrialisierung eines Landes, das wie kein anderes auf der Welt von Meeresressourcen abhängig ist, hatte die vom Chemiekonzern CHISSO verursachte Minamata-Krankheit zur Folge. Und so besteht die größte Eigentümlichkeit des modernen Japan in der Tendenz, mit seiner Modernisierung zu weit zu gehen. Obwohl das japanische Kaiserreich über keine erwähnenswerte Akkumulation an Reichtum verfügte, wurde es nach Amerika und Großbritannien zur drittgrößten Seemacht; und obwohl das Nachkriegsjapan keinerlei industrielle Ressourcen besaß, wurde es zu einer wirtschaftlichen Großmacht mit dem weltweit zweitgrößten Bruttoinlandsprodukt. Dies ist ohne die Logik der Mimesis sicher ebenfalls nicht zu erklären.

Der von der Mimesis verführte Mensch verliert den Blick für die Grenzen und Beschränkungen, die das Selbst vom Anderen unterscheiden. Und was die Japaner in der Moderne aus den Augen verloren haben, ist das Gefühl für ihr Land (Kokudo). Ein erneuter Blick auf Japans Geschichte zeigt: Nachdem im Altertum das System des Ritsuryō-Staates (Ritsuryō ist ein Straf- und Verwaltungsrechtssystem nach konfuzianisch-chinesischem Vorbild; A.d.Ü.) sich bereits kurz nach seiner Einführung vom Festland aufzulösen begann, war die nachfolgende Geschichte Japans ein Prozess der schöpferisch-innovativen Entwicklung einer den Eigenheiten des Landes entsprechenden politischen Kultur. Dies war ferner eine Art gerichtete Evolution hin zu einem System der Selbstverwaltung und Gewaltenteilung, das der klimatischen Mannigfaltigkeit Japans entsprach. Was ich hier als „Land“ (Kokudo) bezeichne, meint eine konkrete Realität, die wir sinnlich erfassen können, keine Abstraktion im Sinne von „Ökologie“ oder der „Lebenswelt“ der Phänomenologen. Das Problem liegt darin, dass die von der Meiji-Regierung geführte mimetische Modernisierung den bis zum Ende der Edo-Zeit stattgefundenen Evolutionsprozess der Gesellschaft abbrechen ließ. So wie die geschichtslose Stadt Tokyo mit Edo brach, ließ die Meiji-Erneuerung die Geschichte abbrechen. Was an die Stelle der vollendeten Modernisierung tritt, ist daher keine oberflächliche Wiederkehr Japans. Es gibt keine nationale Eigenart Japan (Kokusui Nihon), die als Platonscher Archetypus wiederkehren sollte. Nun, da die Eliten durch die AKW-Katastrophe ihre Macht verloren haben, besteht die Aufgabe der postindustriellen Graswurzeldemokratie darin, den verlorengegangenen Sinn für das Land wiederzuerlangen, eine der Eigenart des Landes entsprechende politische Kultur gedeihen zu lassen, erneut die Evolution einer auf Selbstverwaltung und Gewaltenteilung ausgerichteten Gesellschaft in Gang zu setzen. Zu dieser Aufgabe sollte auch gehören, eine weniger Energie verbrauchende Lebensweise zu etablieren und Japan so zu einem Vorreiterland zu machen, das – die dem Lande eigenen Besonderheiten nutzend – seine Energie aus Erdwärme und Wellenkraft gewinnt. Dennoch bleibt zu konstatieren: selbst wenn der AKW-Unfall  zu einem Wendepunkt für Japan werden könnte, sich von der Moderne als Mimesis zu befreien, so war doch – sollte es für lange Zeit verboten bleiben, weite Gebiete der Fukushima-Präfektur zu betreten – der Preis für diese Lektion viel zu hoch.



[1] Inzwischen ist bekannt geworden, dass der Reaktorblock 1 nicht erst durch den Tsunami, sondern bereits durch das Erdbeben beschädigt worden war, so dass der Kühlwasserspiegel sank und kurz darauf die Kernschmelze begann (A.d.Ü.).

Besucher gesamt: 357.744