Yuasa Makoto
„Beidseitiges Abwarten aufgrund von Zurückhaltung“ überwinden
http://tasukeaijapan.jp/?cat=14&p=1936 (letzter Zugriff: 01.11.2011)
Übersetzt von Christoph Knote, Leipzig
Seit dem Erdbeben sind drei Wochen vergangen und obwohl es bereits April ist, ist es immer noch kalt. Es wird geschätzt, dass sich im vom Erdbeben betroffenen Gebiet nach wie vor 250 000 Menschen aufhalten, die in oder in der Nähe von Notunterkünften leben und sich nicht selbst versorgen können.
Obwohl der erhebliche Mangel an Erdölerzeugnissen in vielen Gebieten zu 80% oder komplett beseitigt wurde, gibt es weiterhin Regionen, in denen der kritische Zustand des Fehlens von so grundlegender Infrastruktur wie fließendem Wasser, Gas, Elektrizität, Nahrungsmitteln und Arzneien anhält. Auch gibt es keine endgültige Gewissheit über das Befinden von Angehörigen und Freunden, und die Beerdigung der Toten ist ein noch immer ungelöstes Problem. Ebenso ist die Lage in den Atomkraftwerken unvorhersehbar.
Inmitten dieser Situation beginnt man allerorten von Visionen, die sich dem Wiederaufbau zuwenden, zu sprechen. Weit davon entfernt, dass alles wird wie einst, muss doch zugleich begonnen werden, über den Wiederaufbau nachzudenken - diese vielschichtige Erscheinungsweise selbst sagt viel über das große Ausmaß der jetzigen Schäden. Darauf habe ich früher bereits hingewiesen.
Vermutlich haben sich in diesen drei Wochen viele Menschen, die sich mit Maßnahmen gegen die Erdbebenkatastrophe beschäftigt haben, unablässig gesagt: „Wenn es etwas gibt, das ich machen kann, dann mache ich das!“ Immer weniger Leute warten einfach ab und bekritteln, woran es mangelt. Viele haben das drängende Gefühl, unbedingt helfen zu müssen, und fragen sich zugleich: „Was kann ich schon tun?“ Die japanische Gesellschaft sei eine Gesellschaft der „100 Millionen Kritiker“, hieß es mitunter spöttisch, doch war in dieser Zeit klar zu spüren, dass das Bewusstsein der Betroffenen, zu dieser Gesellschaft zu gehören, in ihr zu leben, immer stärker geworden ist.
Auch ich habe, als Betroffener, voller Ungeduld gedacht: „Wenn es etwas gibt, das ich machen kann, dann mache ich das.“ Und doch spürte ich inmitten der ganzen Maßnahmen gegen die Erdbebenkatastrophe ein Problem: Hier und da entsteht im ganzen Land eine Art „Abwarten aus großer Zurückhaltung heraus“ (tsutsushimi bukasa yue no miai).
Diese Webseite ist nur ein Beispiel dafür, dass in ganz Japan gerade der Trend von „Tasukeai“ („Gegenseitige Hilfe“) aufblüht. „Tasukeai“ setzt jedoch ein wiederholtes SOS von einer anderen Seite voraus. Dieses basiert in vielen Fällen auf zurückhaltender Umsicht: „Bereitet es nicht vielmehr Umstände, wenn man etwas macht, worum der Andere gar nicht gebeten hat?“ Solange Ungewissheit herrscht, was der andere will, zögert man, denn man weiß ja nicht, ob es willkommen ist, dass man etwas tut. Das gründet auf der Rücksichtnahme, die Absichten und Gefühle des Anderen zu respektieren, und ist zugleich ein Grundsatz der Hilfe für Andere. Aber wenn diese Rücksichtnahme zu stark wird, dann nähert man sich einer Haltung, „auf Anweisungen zu warten“: „Solange es keine klare Anfrage gibt, rühre ich mich auch nicht.“
Natürlich lässt man auch auf der anfragenden Seite die gleiche Rücksichtnahme walten. Das nimmt dann die Form an, dass man nicht anfragt, solange der Inhalt der Anfrage nicht klar ist. Weiß man nicht genau, worum man bittet und die reale Situation weicht dann davon ab, fragt man sich: „Habe ich jetzt nicht dem Anderen Umstände bereitet?“ Ein Beispiel: „Es gibt nicht genügend O-Bentô-(Lunch-)Boxen“, „Gut, verstanden, wie viele O-Bentô-Boxen werden benötigt?“, „Also, naja, 300 vielleicht ...?“, in so einer Situation weiß die helfende Seite natürlich nicht, ob 300, 200, oder 500 Boxen; es gibt keine klare Zahl (Anweisung). Als Gebetener ist einem das unangenehm: „Wenn Du um etwas bittest, dann checke das erst Mal und rede dann…“ Denkt man erst einmal so, dann wird für Leute, die sehr zurückhaltend sind, vermutlich die Hürde, um etwas zu bitten, immer höher.
Ist die Zurückhaltung anderen gegenüber, ob nun auf anfragender oder angefragter Seite, sehr stark, dann entsteht vor Ort oftmals ein „beidseitiges Abwarten“ (miai). Man wartet ab, weil man nicht anfragt, ohne genau zu wissen, was man will, und weil man sich ohne klare Forderung nicht bewegt.
Zum Beispiel passierte vor einigen Tagen Folgendes: Wir leiteten ein Hilfsangebot an eine lokale Kommune weiter und der Zuständige am Telefon lehnte das mit Ausflüchten ab: „Nein, wir können die wahre Lage hier auch nicht wirklich erfassen…“ Das Hilfsangebot bestand in Lastwagentransporten vom Materialsammelpunkt der Kommune hin zu den Notunterkünften. Es gab Notunterkünfte, die gut mit Gütern beliefert wurden, und solche, die nicht ausreichend beliefert wurden. Der Vorschlag drehte sich also darum, dass wir in Fällen, wo es Probleme gab, helfen wollten. Die Person am Telefon gehörte jedoch zur helfenden Nachhut aus Kommunen, die Kommunen in den verwüsteten Küstengebieten unterstützen; sie hatte die Transportrouten der Küstenkommunen nicht bis ins letzte Detail erfasst. Angesichts der Größe der diesmaligen Schäden war das nicht verwunderlich, doch hatte sich die Person am Telefon darüber wohl schon den Kopf zerbrochen: Es wäre doch sehr bedauerlich, wenn die Lastwagen stundenlang unterwegs sind und sich dann herausstellt, es würde ja doch reichen…
Ich sagte der Person, so sei es eben, und sollte sich bei der Ankunft der vorbereiteten Trucks herausstellen, dass die Güterlieferungen nicht nötig gewesen wären, so würde es keine Probleme geben, wenn wir uns nur einig darin sind, dass so etwas auch passieren könne. Daraufhin willigte die Person schließlich ein. Um nur eine Hilfsmaßnahme festzumachen und gegenseitige Missverständnisse auszuräumen, haben wir fast zehnmal miteinander telefoniert.
Am Ende hat es dann geklappt, aber das war eher Zufall. Die Bedürfnisse vor Ort verändern sich von Minute zu Minute. Selbst wenn es in dem Moment, da wir telefonierten, nicht geklappt hätte, hätte es sein können, dass sich jemand über eine andere Route bewegt und Vorbereitungen trifft. Oder man erhält eine Anfrage, koordiniert die Lastwagen und trifft Vorkehrungen, was 2 bis 3 Tage dauern kann, aber dann hat sich die Situation vielleicht bereits geändert. Selbst wenn genau festgehalten werde konnte, was gebraucht wird - man weiß ja nicht einmal, ob zu dem Zeitpunkt, da einer Anfrage entsprochen wird, die im Moment der Anfrage gegebene Situation noch fortbesteht.
Es heißt, dass bei Japanern das Moralbewusstsein, anderen Leuten nicht zur Last zu fallen, sehr stark ausgeprägt sei. Nimmt auf Seiten der Bittsteller ebenso wie auf der der Gebetenen das Bewusstsein zu, keine Umstände bereiten zu wollen, so entsteht notwendigerweise ein „gegenseitiges Abwarten“. Zudem wird in Zeiten einer großen Katastrophe wie jetzt klar zwischen Bittstellern und Gebetenen getrennt. Mag im täglichen Leben die Reziprozität zwischen beiden Seiten durchaus funktionieren – wenn jedoch, so habe ich das Gefühl, beide fixiert sind, dann verstärkt sich eben deshalb auf beiden Seiten der Gedanke, „dem Anderen nicht zur Last zur fallen“, und allein dadurch wird es wahrscheinlicher, dass es zu einem „beidseitigen Abwarten“ kommt. Das ist im Zwischenmenschlichen so, zwischen verschiedenen administrativen Ebenen (unter selbstverwalteten Körperschaften, Städten und Dörfern und zwischen Präfekturen und dem Staat). Trifft das demnach nicht genauso auf Freiwillige zu?
Damit möchte ich aber nicht sagen: „Vergesst Rücksichtnahme gegenüber dem Anderen!“ Umsicht ist notwendig. Wenn sie jedoch zu stark ist, dann wird „beidseitiges Abwarten“ daraus und, egal wie viel man bei gleichzeitiger Umsicht auch unternimmt, man agiert schließlich aneinander vorbei. Das geschieht besonders häufig in chaotischen Situationen wie der jetzigen. Meines Erachtens ist es notwendig, dass jeder Einzelne sich sagt: „So etwas [wie die stetige Veränderung der Situation vor Ort] passiert nun mal auch; das ist eben so“, und dass man sich im gegenseitigen Vertrauen darauf begegnet, dass der Andere ebenfalls so denkt.
Ich bin mir selbst bewusst, dass dies leichter gesagt als getan ist. Egal wie oft man auch dazu auffordert, es wird immer Menschen geben, die dabei in Rage geraten und sagen: „Das ist doch ein anderes Thema“ und Menschen, die mit gleichgültiger Haltung sagen: „Da kann man wohl nichts machen.“ Mit umsichtiger Zurückhaltung zu handeln und darüber hinaus auch dann nicht wütend zu werden, sondern zu akzeptieren, wenn man hintergangen wird – das ist bereits eine Art von „Tugend“. Ich höre schon diejenigen, die sagen, dass, wenn alle auf der Welt so handelten, man im Grunde genommen aller Sorgen ledig wäre.
Wird aber zu viel „beidseitig abgewartet“, mit den dann zu befürchtenden Missverständnissen, und kommt es im Ergebnis dessen zu der Tragödie, dass notwendige Hilfe nicht die Leute erreicht, die sie brauchen, dann möchte ich nicht mehr einfach sagen: „Da kann man nichts machen“, und ich glaube, dass der Großteil der Menschen, die jetzt in dieser Gesellschaft leben, das auch nicht sagen möchte.
Sollten wir uns daher nicht dieser Situation stellen und gegenseitiges Vertrauen schaffen?
Offen gesagt glaube ich nicht, dass das nach einer Katastrophe schnell gelingt. Das muss lange, lange im Alltag wachsen und sich akkumulieren. Und vielleicht ist ja eine solche Denkweise einer harten und rauen Wettbewerbsgesellschaft auch nicht angemessen. Doch scheint mir das in dem nun beginnenden langen Wiederaufbauprozess eine große Aufgabe zu sein – nicht nur für die Menschen im Katastrophengebiet, sondern auch für uns, die wir außerhalb davon leben. Anderenfalls, so fürchte ich, verschwindet dieses so mühsam erworbene Bewusstsein, betroffen zu sein, sobald Verkehr und Benzinversorgung wieder funktionieren. Wird dann der Wiederaufbau nicht ein „Wiederaufbau von denen“? Kehren wir dann nicht abermals zum Zustand der „100 Millionen Kritiker" zurück, und die Gesellschaft als Ganze wird von einem Blockade-Gefühl überzogen?
Meint jemand, das alles habe nichts mit den Freiwilligen zu tun, so tut mir das leid. Für mich hat das sehr wohl auch mit den Freiwilligen zu tun, worauf ich bei einer nächsten Gelegenheit noch direkter eingehen möchte.
Sekretariat des Kabinetts, Koordinationsabteilung für freiwillige Arbeit bei Katastrophen
Abteilungsleiter Yuasa Makoto
Yuasa Makoto (湯浅誠) wurde 1969 in Kodairashi geboren und engagiert sich seit Mitte der 1990er Jahre für die Belange von Obdachlosen und sozial Benachteiligten. Noch während des Studiums an der juristischen Fakultät der Universität von Tôkyô war Yuasa (Mitbe)Gründer zahlreicher wohltätiger Vereinigungen, wie der „Food Bank“ (Fûdo banku), dem „Moyai Support-Center für selbständiges Leben“ (Jiritsu seikatsu sapôto sentâ moyai), das u.a. Arbeits- und Obdachlose durch Übernahme von notwendigen Bürgschaften bei der Wohnungssuche unterstützt, oder dem „Anti-Armuts-Netzwerk“ (han-hinkon nettowâku).
In der im Jahre 2000 vom japanischen Philosophen und Gesellschaftskritiker Karatani Kôjin (柄谷行人) gegründeten kapitalismuskritischen Bewegung NAM (New Associationist Movement) war Yuasa ebenfalls aktiv, obgleich er kein festes Mitglied war.[1]
Der breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt durch sein Engagement für das „Dorf der Leiharbeiter“ (haken mura) zur Jahreswende 2008/2009. „Moyai“ und Yuasa, der in Anspielung auf seine führende Funktion bei der Durchführung dieser Hilfsmaßnahmen - die auch als öffentliche Protestbekundung gegen die Vernachlässigung sozial Benachteiligter von Seiten der Regierung besonders zur Jahreswende zu verstehen ist - seitdem von den Printmedien wiederholt mit dem Attribut „Dorfvorsteher“ (sonchô)[2] versehen wurde, und weitere NPOs (Non-Profit-Organisation) zeichneten dabei u.a. verantwortlich für die (sichere) Unterbringung von rund 500 Leiharbeitern in provisorischen Quartieren und die Ausgabe von warmen Reis im Park von Hibiya (Hibiya Kôen). Auf Druck der Organisatoren erklärte sich daraufhin das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales (Kôsei Rôdô-shô) einverstanden, die Betroffenen temporär in ministeriumseignen Fazilitäten unterzubringen.
Seit dem 16.04.2011 ist Yuasa Makoto als Abteilungsleiter des Sekretariats des Kabinetts im Rahmen des regierungsnahen Projektes „Tasukeai Japan“ eingesetzt, das sich zur Aufgabe gemacht hat, „so viele verlässliche Informationen wie nur möglich zu sammeln und diese den Menschen im Katastrophengebiet […] und außerhalb [...] zugänglich zu machen“, sowie „Wissen und Know-how für freiwillige Helfer […] zur Verfügung zu stellen.“[3] Dazu zählen die regelmäßige Aktualisierung von Hinweisen, Empfehlungen und Handlungsanweisungen für BürgerInnen, die als freiwillige Helfer vor Ort tätig werden wollen, die Weiterleitung von Spendengeldern, Versorgungsmitteln und Medikamenten in die verheerten Gebiete sowie die Koordination temporärer Aufnahme von Betroffenen in die eigene Familie.
[1] <http://www.japanfocus.org/-Carl-Cassegard/2684>, letzter Aufruf am 30.07.2011.
[2] Vgl.: Yomiuri Shinbun vom 05.01.2009 (<http://www.yomiuri.co.jp/national/yuragu/yuragu090105_02.htm>, letzter Aufruf am 30.07.2011) oder Asahi Shinbun vom 30.05.2011 (<http://mytown.asahi.com/areanews/tokushima/OSK201105290108.html>, letzter Aufruf am 30.07.2011).
[3] <http://tasukeaijapan.jp/?page_id=2>, letzter Aufruf am 30.07.2011. Unter der Rubrik „Über Tasukai Japan“ finden sich auf der Homepage neben den Zielen des Projekts auch Informationen über seine Gründung, die auf das Jahr des Kôbe Erdbebens, 1995, zurückgeht: <http://tasukeaijapan.jp/?page_id=3014>, letzter Aufruf am 30.07.2011.