Aufklärung und schwarze Schiffe
Raji C. Steineck (Japanologie/Universität Zürich)
Seit dem Erdbeben im März und der ihm folgenden Flutwelle ist Japan wieder in den Blick Europas geraten. Vor allem die katastrophalen Störfälle in diversen Kernreaktoren, die von den Naturgewalten ausgelöst wurden, haben unmittelbare Folgen auch auf der westlichen Seite des eurasischen Kontinents gezeitigt. Dabei wurde hier teils schon die Entscheidung für einen endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft getroffen, während diese Frage in Japan noch völlig in der Schwebe ist. Zwar sind von den 54 Kernkraftwerken gegenwärtig (Juli 2011) mehr als 30 zur Sicherheitsüberprüfung oder für Wartungs- und Reparaturarbeiten außer Betrieb gesetzt. Premierminister Kan hat im Frühjahr eine offene Diskussion über die Zukunft der Kernenergie gefordert und zahlreiche Japanerinnen und Japaner haben sich in landesweiten Demonstrationen gegen ihre weitere Nutzung ausgesprochen. Aber es gibt auch starke Kräfte, die keine Alternative zur Atomkraft sehen oder sehen wollen. So zeichnete die konservative Wochenzeitschrift Shūkan Shinchō in ihrer ersten Juliausgabe ein ökonomisches Untergangsszenario für den Fall des Ausstiegs: Alle Großunternehmen würden Japan verlassen und ihre kleinen und mittleren Zulieferer müssten im Gefolge den Betrieb einstellen. Das mag ein Versuch sein, den Katastrophenbildern der Atomgegner etwas entgegenzuhalten. Denn andere Medien malen eher am Bild der atomaren Wüste. So zitiert die Zeitschrift Shūkan Gendai in ihrer aktuellen Ausgabe den in den USA lebenden Atomphysiker Kaku Michio[1] mit der Aussage, bei einer weiteren Verschlimmerung der Situation im AKW Fukushima 1 könnte ganz Nordjapan unbewohnbar werden. Ganz praktisch arbeitet einer der erfolgreichsten Unternehmer Japans dem Argument der Alternativlosigkeit entgegen: Son Masayoshi, der zur koreanischen Minderheit gehörende Gründer und CEO der Telekommunikationsfirma Softbank, hat die Erzeugung und Verteilung von Strom auf der letzten Generalversammlung der Firma in die Unternehmensziele aufnehmen lassen. Sein Plan sieht vor, auf 20% der 340.000 Hektar landwirtschaftlicher Brachflächen in Japan Solarzellen zu installieren. Die Tageszeitung Asahi Shinbun kommentierte, für das Oligopol der Stromproduzierer sei dieser Plan mit der Ankunft der "schwarzen Schiffe" gleichzusetzen - jener Dampfschiffe, mit denen Commodore Perry 1853 die Öffnung der japanischen Häfen erzwang. Dabei stehen Son bzw. Softbank nicht alleine: Die Firma Panasonic veröffentlichte im Mai Pläne zur Errichtung einer Modellstadt in Kanagawa, die am Ideal der Energieeffizienz und -selbstversorgung ausgerichtet sein soll.
Mindestens eine Revolution im Energiesektor wird also im Lande selbst durchaus erwartet. Die Frage ist, ob sich darüber hinaus etwas Grundsätzliches ändern wird, und ob diese Änderungen in Richtung einer zweiten, reflexiven Aufklärung gehen könnten. Nun ist der Energiesektor für ein hochindustrialisiertes Land wie Japan keineswegs peripher. Er verkörpert zudem jene gesellschaftlich-politische Struktur, die charakteristisch für Japans Weg der Modernisierung von oben ist, der nach Ankunft der schwarzen Schiffe beschritten wurde. In diesem Modell hatte Aufklärung eine klare Richtung und einen klaren Ort: Die Untertanen sollten von Aberglauben und Unwissenheit befreit werden, um tatkräftig an der wirtschaftlichen Modernisierung und militärischen Stärkung des Landes mitzuwirken. "Ein reiches Land, eine starke Armee" (fukoku kyōhei) lautete eine der Leitdevisen. Nur so war das Land vor der Kolonisierung durch die westlichen Mächte zu bewahren. Zugleich fürchtete man den modernen Individualismus als Quelle innerer Zerrissenheit, die das Land trotz dieser Bemühungen angreifbar machen würde. Die Wandlung der Untertanen in politisch mündige Subjekte, die ihre Interessen selbst einschätzen und wahrnehmen, war daher jene Seite der Aufklärung, die Japans Modernisierer nicht wollten.
Nach der Ankunft der "schwarzen Schiffe" kam die japanische Aufklärung also wesentlich von oben und richtete sich nach unten. Ihr Zielbereich war das praktische und theoretische Wissen, nicht aber die politische Willensbildung. So verstand man das Projekt der Moderne wesentlich als ein technokratisches. Auch auf die Niederlage im Pazifischen Krieg und die Atombombenabwürfe reagierte die politische Elite in diesem Sinne: Man sah, so die Soziologin Yuasa Masae, den eigenen Fehler darin, dass man sich im nationalen Überschwang zu sehr auf die angenommene geistig-sittliche Überlegenheit der japanischen Nation verlassen habe. Wissenschaft und Technik habe man darüber vernachlässigt. Die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung galt so als Symbol, dass Japan nun die Kräfte beherrschte, die es 1945 besiegt hatten. Sie stand für eine wissenschaftlich-technische Zivilisation, die scheinbar alle materiellen Grenzen überwand: Man konnte auch in Erdbeben- und Flutwellengebieten Städte bauen und AKWs errichten, man musste sie nur mit hohen Dämmen schützen. Aus diesem Traum der technisch beherrschten Welt ist Japan durch die diesjährigen Katastrophen unsanft erwacht. Die Vorschläge einer von der Regierung eingesetzten "Wiederaufbaukonferenz" sehen nun als neues Modell nicht mehr Schadensverhinderung, sondern Schadensbegrenzung durch Anpassung an die natürlichen Verhältnisse an. Damit ist auch offiziell ein Paradigma der Technik anerkannt, das sie in ihren Grenzen und ihrer mögliche Ambivalenz begreift - wie dies japanische Technikethiker schon lange gefordert haben.
Aber auch das Gesellschaftsmodell der ersten Aufklärung steht durch die Krise verstärkt in Revision. Für die frühmoderne Elite galt, Japan sollte eine Gemeinschaft und keine Gesellschaft sein, und das Staatsvolk sollte einsichtig an den Zielen seiner Regierung mitarbeiten. Mit dem Kaiserlichen Erziehungserlass von 1890 wurde diese Grundhaltung festgeschrieben. Die sog. Kyoto-Schule, eine einflussreiche Strömung der japanischen Philosophie, arbeitet seit den 1920ern an der "Überwindung der Moderne". Ihr Begründer Nishida Kitarō entwickelte eine Identitätsphilosophie, die alle Widersprüche in einer ursprünglichen Einheit aufheben wollte. Sie sollte durch Selbstnegation der gesellschaftlichen Gruppen und Individuen erreicht werden. Das japanische Kaiserhaus stellte er dabei als geschichtliche Verkörperung dieser Einheit dar. Unter expliziter Berufung auf Nishidas Metaphysik entfaltete Watsuji Tetsurō seine Ethik des "Zwischen-Seins", nach der die Regeln des Handelns durch die vorgegebenen gesellschaftlichen Rollen definiert sind. Individualistischer Widerspruch, gesellschaftlicher Protest und soziale Konflikte gelten der Kyoto-Schule als Verfallszeichen der westlichen Moderne. Diesen Fiktionen der Harmonie haben Philosophen und Intellektuelle in Japan schon in den 1930ern widersprochen. Aber auch die Demokratisierung nach 1945 hat derartige Tendenzen trotz lebhafter Bemühungen von Bürgerbewegungen, Gewerkschaften und Intellektuellen nicht vollständig beseitigt. Seit den 1980er Jahren bemühen sich die Konservativen offensiv um die Wiederbelebung des Patriotismus im Erziehungswesen. In diesem Rahmen erlebt auch die Kyoto-Schule ein Revival - obwohl sich die Mehrzahl der japanischen Philosophen von ihr lieber fernhält.
Große Teile der Bevölkerung nahmen im Übrigen das in der Nachkriegszeit mit der Forderung nach konsensualem Verhalten verbundene Angebot gerne an, sich auf den wirtschaftlichen Erfolg und die privaten Angelegenheiten zu konzentrieren. Strukturelle Basisentscheidungen, wie jene zum Auf- und Ausbau der Kernenergie, wurden so weitgehend ohne Bürgerbeteiligung getroffen. Die Bevölkerung außer Sichtweite der AKWs nutzte den dort erzeugten Strom und machte sich, wie der populäre Schriftsteller Katayama Kyōichi in einem aktuellen Kommentar für die Asahi Zeitung schreibt, wenig Gedanken um seine Herkunft. Das hat sich nun geändert. Katayama fordert von sich und seinen Landsleuten, sich ein eigenes Urteil zu bilden und Verantwortung für die kommenden Entscheidungen zu übernehmen: "Natürlich ist es wichtig, den Unfall zu untersuchen und zu klären, wo die Verantwortung liegt. Aber noch wichtiger ist es doch wohl, dass jeder Einzelne im Staatsvolk jetzt intensiv nachdenkt und seine Einstellung zur Kernenergie zum Ausdruck bringt." Am Ende solle eine auf allgemeinen Wahlen beruhende Entscheidung stehen, mit der das Volk bewusst in die Verantwortung für den gewählten Weg und seine Folgen einträte. Katayama fährt fort: "Selbst für den hypothetischen Fall, dass das Staatsvolk dabei pro Atomkraft entschiede, würde das bedeuten, dass es die Verantwortung für ihre Sicherheit in Zukunft selbst übernähme."
Die bequeme Haltung des braven Staatsvolks, die Regierung für einzelne Fehler zu schelten, sie zugleich aber auch schalten und walten zu lassen, weil "man" sich nicht politisch engagiert, scheint Risse zu bekommen. Es ist sicher noch zu früh, zu sagen, wo Japan nach den Ereignissen im März hinsteuern wird. Nimmt man aber die hier erwähnten Tendenzen und Äußerungen zusammen, könnte es sein, dass es am Beginn einer neuen Phase der Aufklärung steht. Reflexion des Verhältnisses zu Wissenschaft und Technik und selbstverantwortliche Beteiligung der Individuen am politischen Prozess wären zwei Hauptthemen dieser Phase, die sich gegenwärtig abzeichnen.
[1] Nach japanischer Gepflogenheit steht hier und im Folgenden der Familienname stets vor dem Rufnamen.