Ikezawa Natsuki
Ein Jahr danach – Leben in Unsicherheit
Original: 池澤夏樹 あの日から一年 不安を抱いて生きる (Asahi Shinbun 3. 10. 2012, S. 16)
Übersetzt von Guido Gefter (Universität Zürich)
Wie haben wir dieses Jahr verbracht? Wie haben wir uns durch diese schreckliche Erfahrung verändert?
Zuerst kam natürlich der Schock. Fassungslosigkeit. Regungsloses Verharren im Angesicht der Katastrophe: Ist so etwas wirklich möglich?
Angefangen mit den direkt Betroffenen vor Ort bis hin zu denjenigen, die fernab über die Lage ausschliesslich aus den Medien unterrichtet waren, mag der Schock sich in seiner Heftigkeit unterschieden haben.
Dennoch wurde sicherlich allen schmerzhaft bewusst, dass eine Katastrophe diesen Ausmasses jeden Ort der japanischen Inselkette heimsuchen kann. Von Tsunami und Atomkraftwerken einmal abgesehen, gibt es in diesem Land keinen Zentimeter Erde, für den man ein Erbeben ausschliessen könnte.
Als nächstes kamen die langen Tage des Erduldens. Auch hier mag es, in Abhängigkeit von der Distanz zum Katastrophengebiet und der persönlichen Involviertheit Unterschiede gegeben haben; aber gelitten haben wir sicher alle. Wer sich weit weg vom Geschehen aufhielt, hat versucht, sich die Beschwerlichkeiten des Lebens in Auffanglagern und provisorischen Behausungen vorzustellen.
Das Erdulden war zugleich auch ein Antrieb. Die Überlebenden legten sich für ihre Zukunft ins Zeug und auch diejenigen, die helfen wollten, blieben nicht untätig. Zwar gab es allenthalben viel Chaos und Verwirrung; meines Erachtens hat die private Hilfe der Bevölkerung, angefangen mit dem eiligen Aufbau von Organisationen bis hin zur Arbeit vor Ort, aber doch einigermassen funktioniert.
Wie sieht es mit dem Verwaltungsapparat aus? Die Unzufriedenheit mit der Regierung und den Zentralbehörden ist gross. Sie waren völlig unvorbereitet. Es kam nicht selten vor, dass sie mit ihren ad hoc-Massnahmen die Dinge noch zusätzlich verschlimmert haben. Politische Streitigkeiten sowie Rivalitäten zwischen Ministerien und Behörden traten in unerträglichem Ausmass zutage. Der Einsatz der Polizei, Feuerwehr und Armee dagegen machte Mut.
Hinsichtlich der Kommunen im Katastrophengebiet lässt sich wohl kaum etwas anderes festhalten, als dass sie sich angesichts einer Extremsituation redlich bemüht haben. Ihnen blieb schwerlich etwas anderes übrig, als die sich anhäufenden Aufgaben eine nach der anderen abzuarbeiten. Angesichts der Katastrophe hat man selbst in denjenigen Gebieten, die zum Stillstand gekommen waren, vollen Einsatz geleistet. Dabei konnte man auch beobachten, wie Bürger aktiv das Wort ergriffen, weil sie bemerkt hatten, dass auf die Regierung nicht einfach ohne Weiteres Verlass war.
Jetzt, ein Jahr danach, steht jedoch auch die Frage im Raum, ob dieser ganze Aufbruch wirklich nicht mehr vermochte als das, was wir gegenwärtig erreicht haben. Ist das nun also das Potential dieses Landes? Man gerät ins Grübeln. Legt man Befriedigung über das Erreichte und Enttäuschung in die Waagschalen, fällt letztere beträchtlich schwerer ins Gewicht. Von einer Wiedergeburt kann keine Rede sein. Selbst die Wiederherstellung hat gerade erst begonnen.
Anfangs konnte man so etwas wie die Hoffnung am Ende der Hoffnungslosigkeit spüren. In einer sog. Katastrophen-Utopie halfen die Menschen sich gegenseitig und man hoffte, dieses Land würde dadurch einen bedeutenden Wandel erfahren. Man hatte den Eindruck, gerade das Ausmass der Erschütterung böte die Gelegenheit zur Umsetzung von Reformen.
Die grösste Hoffnung war ein Abschied von der Atomenergie. Da ich schon seit je her der Ansicht gewesen war, der Mensch könne sie nicht kontrollieren, ging ich davon aus, dass jetzt, nachdem sich dies in so spektakulärer und entsetzlicher Weise erwiesen hatte, ein unverzüglicher Richtungswechsel stattfinden würde,.
Aber sowohl die Stromkonzerne als auch die Industrie sind unbelehrbar. Das Recht ihrer Konzessionen wiegt schwer und sie scheinen einer anderen Ethik verpflichtet als wir. Denkt man zurück an den Quecksilber-Verschmutzungsskandal von Minamata, steht uns womöglich noch ein langer Kampf bevor.
Und trotzdem: In nicht allzu ferner Zukunft wird der Tag kommen, an dem in ganz Japan kein einziges Atomkraftwerk mehr in Betrieb ist. Auch die Bewegung, die vermehrt auf natürliche Energien setzen will, hat allmählich an Auftrieb gewonnen. Ob es auch auf diesem Gebiet zu einem Tauziehen um jeden Schritt kommt?
Eine der Veränderungen, die mit dem Erdbeben einher gingen, besteht darin, dass heute keiner und keine mehr umhin kommt, eine eigene Meinung zu haben. Das beste Beispiel dafür ist die Haltung gegenüber den gesundheitlichen Risiken radioaktiver Strahlung. Da es keine verlässlichen Zahlen bezüglich gesundheitlich unbedenklicher Grenzwerte gibt, bleibt dem Individuum nichts anderes übrig, als sich selbst ein Urteil zu bilden. Das ist ein wirklich schwieriges Unterfangen, das bei abweichenden Ansichten innerhalb einer Familie zuweilen auch Unfrieden stiftet.
Das ist zwar beklagenswert, aber auf sich alleine gestellt zu leben ist die Natur des Menschen. Die Japaner waren bis anhin geschickt darin, angepasst an ihre Umgebung zu leben. Wenn sie nun lernen, selbständig zu denken und ihren eigenen Weg zu wählen, ist das als Veränderung wohl durchaus sinnvoll. Ob man sein nächstes Haus wieder an der Küste baut oder lieber auf eine Anhöhe zieht, ist letztlich eine Frage, die jeder einzelne selbst beantworten muss.
Beim Erdbeben gab es Opfer, es gab Helfer und darüber hinaus Aussenstehende bzw. Zuschauer. Betroffene waren in dieser Katastrophe, die als gesellschaftliches Phänomen das ganze Land überrollte, in Wirklichkeit jedoch alle Bewohner Japans. In unserer Unsicherheit erhält diese Betroffenheit eine Gestalt. Die Erde bebt heftig, das Meer macht sich über das Festland her und Kernkraftwerke stürzen ein und verbreiten grosse Mengen radioaktiver Substanzen.
Das sind die Bedingungen, unter denen wir leben. Wir können uns bemühen, die Zahl der Katastrophen zu verringern. Bis zu einem gewissen Grad kann man sie auch voraussehen. Die Kernkraftwerke werden womöglich allesamt still gelegt. Mit andern Worten: Vorbeugung ist möglich, aber eine vollkommene Sicherheit gibt es nicht.
Man fühlt sich an die Zeit eines drohenden Atomkriegs erinnert. Sensible Menschen waren in einer bestimmten Phase nach dem Krieg in ernsthafter Besorgnis. Erst im Nachhinein wurde klar, dass die Kuba-Krise in Wirklichkeit eine Weltkrise war.
Dass leben immer ein bestimmtes Mass an Unsicherheit enthält, das haben wir begriffen.