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Willkommen auf der Seite der "Textinitiative Fukushima"

Die Seiten der Textinitiative Fukushima werden derzeit von der Japanologie der Goethe-Universität betrieben. Gegenwärtiges Anliegen von TIF ist die zeitgeschichtliche Dokumentation. Das Forum dient nun in erster Linie als Archiv für Informationen zu 3/11 sowie allgemein zur Geschichte des Atomaren. Die Suchfunktion ermöglicht Recherchen zu Stichworten, Inhalten und Akteuren.

Aktuelles

Kayama Rika: „Es gibt keine Gemeinschaft“ - Teil II des Berichts aus Fukushima

In der Übersetzung von Johanna Mauermann M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Frankfurt und Mitglied des Arbeitskreises Fukushima, liegt nun der zweite Teil einer Reportage aus Nordostjapan vor, die die Psychiaterin und Publizistin Kayama Rika zusammengestellt hat. Kayama äußert sich auch hier wieder sehr kritisch gegen den "Wiederaufbau-Nationalimus", der die japanische Medienlandschaft zu einem nicht geringen Teil prägt und betont, daß sie auf ihrer Reise durch das Katastrophengebiet viele Einzelstimmen vernommen hat und keinesfalls eine kollektive japanische Übereinstimmung hinsichtlich der Bewältigungsstrategie des Geschehnisses wahrnehmen konnte.


Linksammlung

Während die Linkliste der Textiniative stetig weiter wächst, möchten wir die folgenden Links besonders hervorheben:


Das kawaii-Prinzip und der Atomprotest

Wie eine japanischen Girlie-Band ihre Ablehnung des Atomaren formuliert, zeigt das kürzlich von Christopher Derbort entdeckte Video mit einem "Datsu genpatsu"-Song der fünf Mädchen, die sich ganz dem kawaii-Prinzip gemäß lieb und niedlich geben, dabei aber kritisch zur Erwachsenenwelt Stellung nehmen. Unter anderem greifen sie in ihrem Lied spöttisch auf die Formel "Schadet ihrer Gesundheit bis auf weiteres nicht" zurück und fordern, die Ereignisse von Fukushima nicht zu verdrängen und zu vergessen: Man solle sich aktiv für die Abschaffung der Atomkraft einsetzen - so argumentieren die Mädchen im J-Pop-Format.


(Link: http://www.youtube.com/watch?v=ly_i8f-j0xU&feature)


Vorbemerkung zur Übersetzung des Textes „Ich möchte, dass die Leute erfahren, was Atomkraftwerke sind“ von Hirai Norio (1939-1997)

Obwohl der folgende Text seit Jahren im Netz zu finden war und dort auch kommentiert, diskutiert sowie als „zu emotional“, „voller Übertreibungen, ja Unwahrheiten“ etc. angefochten wurde, stand er bis zum 11. März 2011 nicht im Fokus einer breiteren Debatte. Nach den Havarien in Fukushima 1 jedoch erhielten er und sein Autor immer mehr Aufmerksamkeit – auch über Japan hinaus (mittlerweile liegen auch mindestens zwei englische Übersetzungen vor:
http://independent.academia.edu/YasuoAkai/Papers/678874/Norio_Hirai_I_Want_You_to_Know
_What_a_Nuclear_Power_Plant_Is_

und http://www.facebook.com/note.php?note_id=122692927808800&comments ).
Abgeglichen werden kann der Text übrigens auch mit einer Reihe von Youtube-Sequenzen, die Hirai Norio als Vortragenden und Diskutanten auf verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen zeigen, wo er zentrale Aussagen der hier übersetzten schriftlichen Ausführungen mündlich darlegt: vgl. z.B. http://www.youtube.com/watch?v=0x1AQ5HRu0o&feature=related, Teil 1 von insgesamt 10 Sequenzen des Vortrags „Verborgene Wahrheit. Darum sind AKW in Japan gefährlich“; diesen hielt Hirai am 12. Oktober 1996, wenige Monate vor seinem Tod, an der Itō-Juku, einer 1995 von Itō Makoto (u.a. Verfassungsrechtler und Mitakteur im „Magazine9“ http://magazine9.jp/ ) zur „Heranbildung wahrer Juristen und Verwaltungsbeamter“ gegründeten Privatschule; folgender Link führt auf den gesamten, von der Itō-Juku aufgezeichneten Vortrag, der aber offensichtlich (derzeit) nicht aktiviert werden kann:
http://bb.itojuku.net/iclass/open/103.jsp?p_dclsid=00005590&p_dboxid=00000183 ).
Für eine Aufnahme der Ausführungen hier in die "Textinitiative Fukushima" sprechen wenigstens drei Gründe: Erstens bestätigen nicht nur andere AKW-Gegner mit ihren zu Papier oder zu Gehör gebrachten Erfahrungen einen Großteil der Ausführungen von Hirai, sondern auch die Ereignisse seit dem 11.3. und die (verfälschenden oder Nicht-)Reaktionen der Verantwortlichen darauf. Zweitens ist der Text aus der Perspektive des Umgangs mit Kritik an der AKW-Politik (nicht nur in Japan) in den Mainstream- und den sog. Neuen Medien interessant: Ignoranz in ersteren trägt dazu bei, dass es nur schwer zu einer sachlichen Auseinandersetzung über aufgezeigte Mängel und Vorwürfe kommt, stattdessen in letzteren entweder Mitgefühl mit Hirai oder aber pauschale Ablehnung vorherrschen. Das führt zu einem dritten Aspekt, warum es Sinn macht, sich mit Äußerungen wie denen von Hirai (aber auch von Kamanaka, Hirose, Koide u.a. Anti-AKW-Akteuren) zu befassen: Sie blieben in dem hängen, was Mishima Kenichi in DIE ZEIT vom 7. Mai 2011 („Des Pudels Kern“) als „Kryptoöffentlichkeit“ bezeichnet hat: „Trotz ihrer Verbreitung haftet seinen Büchern [gemeint ist hier der international bekannte Atomphysiker Takagi Jinzaburō; S.R.] der Charakter eines Samisdats an. Eine Wirkung, wie sie Holger Strohm mit seinem Buch Friedlich in die Katastrophe (1973) erzielen konnte, hat er nicht erreichen können. Der Effekt war hier in Japan die Bildung einer Art Anti-Club. Die Mitglieder treffen sich und feiern im Schulterschluss gegenseitig ihre Anti-Mentalität. Diesem Club steht ein gewaltiges Konglomerat von Atomindustrie, Wissenschaft, Politik und Gewerkschaft gegenüber. Das Konglomerat nennt sich kokett Atomdorf. Der Club der Gegner hat gegen das Dorf keine Chance. Während sowohl Holger Strohm als auch Klaus Traube mit dem Verdienstorden beziehungsweise dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurden, denkt unser Staat nicht daran, die ewigen Protestler, unangenehme Sandkörner im Getriebe, mit Orden zu ehren. Sie sind für den Staat bedauerliche, entgleiste Existenzen.“ (http://pdf.zeit.de/2011/19/Japan.pdf ). Sie als Panikmacher oder Verschwörungstheoretiker ins Abseits zu stellen, gehört zu den sozialen und psychologischen Techniken, die einhergehend mit der „autoritären Kerntechnik“ entwickelt werden: „von der heimlichen Verführung zur »Akzeptanz«der Kernkraft bis hin zum offenen Angriff auf Nervensystem und Gehirn reicht eine ganze Skala der Interventionen im Dienste der »Vernunft«. Man schreckt nicht vor der Diffamierung der Gegner zurück, die als »irrational« und »geistig unzurechnungsfähig« bezeichnet werden.“ (Robert Jungk: Der Atomstaat, S. 171). Jungk konzentriert sich gemäß dem Thema seines Buches vor allem auf die Exekutive, die zu solchen Mitteln greift. Die ambivalente Rolle der – vor allem Neuen – Medien bleibt noch in aller Detailliertheit und von Fall zu Fall zu analysieren – zeigt doch der Text von Hirai, dass wir ohne Internet nichts oder kaum etwas von ihm wüssten, dass aber zugleich auch hier die Diffamierungen stattfinden. Was auf die Dringlichkeit verweist, die durch die „Öffentlichkeitsarbeit“ von Oligopolen wie Tepco stattgefundene „Entmachtung der Öffentlichkeit“ nicht nur analytisch-wissenschaftlich aufzuarbeiten; vielmehr bedarf es "eines mühsamen und langwierigen Prozesses, in dem die entmachtete Öffentlichkeit ihre potenzielle kommunikative Macht zurückgewinnt und sich auf diverse Weisen artikuliert.“ (Mishima) – und zwar auch auf Protestdemonstrationen (vgl. das Karatani-Interview vom 17. Juni 2011, übersetzt und veröffentlicht auf dieser Homepage) und durch den „Ausstieg aus Lebensstilen“, die durch die Atomindustrie propagiert und fundiert wurden (vgl. das Interview mit Matsumoto Hajime "Wir sind stinksauer!...“, ebenfalls nachlesbar auf dieser Homepage).


Steffi Richter

Hirai Norio - Ich möchte, dass die Leute erfahren, was Atomkraftwerke sind


System der Verantwortungslosigkeit: anschaulich

In verschiedenen bisher übersetzten Beiträgen (so etwa im Text von Takahashi Tetsuya, oder im demnächst folgenden Text von Sakai Naoki) ist immer wieder die Rede vom "System der Verantwortungslosigkeit" - ein Begriff, den einst der Politik- und Ideenhistoriker Maruyama Masao geprägt hat Ein besonders anschauliches und zumindest mich erschütterndes Beispiel zeigt die folgende Youtube-Sequenz, die ich von der (u.a.) Manga-Zeichnerin Marianna Poppitz zugeschickt bekommen habe (vielen Dank!):

http://www.youtube.com/watch?v=rVuGwc9dlhQ&feature=player_embedded
(von dort führen weitere Links auf Sequenzen, die auch erklären, wer da im Posium saß)

Es ist dies die Pointe einer etwa zweistündigen Zusammenkunft von Vertretern der Regierung bzw. Bürokratie aus Tokyo mit Bewohnern von Fukushima/der Präfektur - letztere fordern Aufklärung über die Strahlensituation und: gleiche Behandlung wie auch andere Bürger des Landes. Man zähle einmal mit, wie oft allein in dieser knapp 6-minütigen Sequenz von ersteren geäußert wird, das falle nicht in ihr Ressort bzw. dafür seien nicht sie verantwortlich...
Schon 1977 verwies Robert Jungk in seiner nach wie vor lesenswerten und erhellenden Anti-AKW-Schrift "Der Atomstaat" (1) auf die Rolle der Kernkraft bei der "Entwicklung vom Rechtsstaat zum totalitären Atomstaat", auf das dafür erforderliche Zusammenwirken von
"Großindustrie", "Großstaat" und "Großwissenschaft". Jungk zeigt anhand der Atomindustrie-Entwicklung in Frankreich, der BRD, der USA, punktuell auch in Japan, wie sehr es für die Aufrechterhaltung der Industrie eben gerade jenes Aspekts von "Staat" bedarf, der nicht nur die Technik selbst "unter Kontrolle" bringen will/muß (was nie ausreichend gelingt), sondern auch auf effiziente "Menschenkontrolle" angewiesen ist. Diese bedeute in jedem Fall Einschränkung der Freiheiten und Rechte, nicht nur mittels der vielen Zäune um AKW- oder Atommüllanlagen (die nicht nur/weniger die Bürger vor den Anlagen als vor allem die Anlagen vor den Bürgern schützen sollen), sondern auch mit Hilfe neuer Sozial- und Psychotechniken. Worüber bei Jungk - vor Tschernobyl und Fukushima - hingegen noch wenig zu lesen ist, sind Erfahrungen, wie sich Staat/Bürokratie, Politik, Energieindustrie, Medien und auch die "Großwissenschaft" (das, was kürzlich Ueno Chizuko oder auch Sakamoto Ryûichi (2) als das "den-kan-sei-gaku-hô-"Pentagon" 電官政学報の「ペンタゴン」bezeichnet haben) dann als "machtlos" gerieren ("Das war nicht vorauszusehen!") und sich aus der Verantwortung stehlen, wenn es zum GAU gekommen ist. Wie gesagt, diese Sequenz, veranschaulicht das, was nun mehr auch von uns Japanwissenschaftlern gründlich zu analysieren und im wortwörtlichen Sinne zu ver-öffentlichen ist.

1. Robert Jungk: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit. München 1977/1991
2. Ikezawa Natsuki et al (Hg.): Datsugenpantsu shakai o tsukuru30nin no teigen [Vorschläge von 30 Leuten zur Schaffung einer Gesellschaft, die aus der Atomkraft aussteigt]. Tôkyô: Commons, 2011

Steffi Richter


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